Wie gefährlich ist eigentlich ein Schlangenbiss?

Viele Giftschlangen setzen bei einem Biss so viel Gift ab, dass ihre Beute innerhalb kürzester Zeit stirbt
Viele Giftschlangen, wie zum Beispiel die südamerikanische Klapperschlange, setzen bei einem Biss so viel Gift ab, dass ihre Beute innerhalb kürzester Zeit stirbt Foto: shutterstock
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Ihre Gifte zersetzen menschliches Gewebe in Minuten, lösen innere Blutungen aus, lähmen das Atemzentrum im Gehirn oder lassen uns halluzinieren: Aber wann genau wird welcher Schlangenbiss zum Todesurteil?

Es dauert nur Bruchteile einer Sekunde. Nur wenige Milliliter dringen in die Blutbahn von Christopher Schweder ein. Doch mit dem Biss der südamerikanischen Klapperschlange flutet eine ganze Armee von hochgiftigen Aminosäuren, Enzymen und Proteinen den Körper des Mannes. Was dieser nicht weiß: Die sogenannte C. d. terrificus ist eine der wenigen Schlangen auf der Welt, die sowohl ein Nervengift als auch ein Gewebegift in ihrem Waffenarsenal hat. Selbst die spezielle Reinigungsflüssigkeit, mit der sein Freund umgehend nach dem Schlangenbiss die Wunde auswäscht, kann das Gift nicht mehr stoppen. Innerhalb von Minuten schwillt Schweders Unterarm auf die Größe einer Melone an, das Gewebe wird regelrecht zerfressen. Sein Blut wird vom Hämotoxin so extrem verdünnt, dass es durch die Kapillargefäße in den Körper fließt. Innere Blutungen setzen ein. Unbändige Schmerzen sind nun die einzigen Reize, die der 46-Jährige noch wahrnimmt. Sie sind vergleichbar mit denen, die man bei einer Verbrennung dritten Grades empfindet. Gleichzeitig überschwemmt das Nervengift die wichtigsten Schaltzentralen in seinem Kopf. Nur Minuten später verstummen die Befehle ans Atemzentrum, und der Herzschlag setzt aus. Fast alle lebenswichtigen Organe sind schachmatt gesetzt – von wenigen Tropfen eines gelben Sekrets. Weder die Erste-Hilfe-Maßnahmen der Notärzte noch die injizierten zwei Ampullen Antiserum können den Verfall von Schweders Körper jetzt aufhalten. Er stirbt – 60 Minuten, nachdem er in das Terrarium seines Freundes gefasst hat...

Was entscheidet, ob ein Schlangenbiss tödlich endet?

Ohne Frage, Christopher Schweder ist ein zu großes Risiko eingegangen. Allerdings hat auch extremes Pech zu seinem Tod geführt. Denn nicht jeder Biss einer südamerikanischen Klapperschlange hat eine derart tödliche Wirkung. Tatsächlich können alle Giftschlangen selbst dosieren, wie viel Neuro- oder Hämotoxin sie abgeben. So unterscheiden Schlangenforscher, sogenannte Herpetologen, zwischen Verteidigungs- und Angriffsbissen. Bei einem defensiven Schlangenbiss greifen Reptilien auf weniger als zehn Prozent ihres Giftspeichers zurück, manche schlagen ihre Zähne sogar ein, ohne Gift zu injizieren – ein Trockenbiss. Ein offensiver Schlangenbiss dagegen kann die doppelte Toxin-Dosis enthalten, um die Beute schnell zu lähmen. Ein Verhalten, das Schweder das Leben kostet: Als er die Hand ins Terrarium steckt, ist Fütterungszeit. C. d. terrificus rechnet mit einem Beutetier – und setzt mit tödlicher Präzision zum Offensiv-Biss an.

schwarze Mamba
Eine schwarze Mamba injiziert normalerweise bis zu 400 mg Nervengift bei einem Biss Foto: alamy

Auch wenn in Europa Fälle wie dieser die Ausnahme sind, weltweit wird kaum ein Risiko so unterschätzt wie das, von einer Giftschlange getötet zu werden. "Im 21. Jahrhundert ist der Schlangenbiss die am meisten vernachlässigte tropische Krankheit", sagt der Mediziner David Warrel von der University of Oxford. Seine Aussage belegen auch die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Jedes Jahr werden fünf Millionen Menschen von einer Giftschlange gebissen, 300 000 von ihnen erleiden dauerhafte Behinderungen, 125 000 Menschen sterben. Experten glauben, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist. So belegte eine Studie, dass allein in Indien 46 000 Menschen jedes Jahr durch einen Schlangenbiss sterben. Die offizielle Statistik zählt bisher nur 2000 Opfer. "Die meisten sterben in ihren Dörfern, sie schaffen es weder ins Krankenhaus noch in die Statistik", erklärt der Experte Ulrich Kuch.

Welche drei Dinge sollte man niemals tun, wenn man einen Schlangenbiss erlitten hat?

Die Verhaltenstipps halten sich hartnäckig, manche finden sich sogar noch als Anleitung in Büchern: Wer von einer Giftschlange gebissen wird, solle abbinden, einschneiden und aussaugen. Heute warnen Herpetologen eindringlich davor, diese Ratschläge zu befolgen. Tatsächlich kosten sie im besten Fall wichtige Zeit und im schlimmsten Fall das Leben. So ist das Abbinden nur für starke Blutungen geeignet. Bei einem Schlangenbiss dagegen staut sich durch das Abbinden die Giftmenge in einer Körperregion, was oft zum Verlust von Gliedmaßen führt. Auch vom Einschneiden einer Bisswunde wird dringend abgeraten. Die Gewebegifte lassen das Blut schneller fließen. Durch die vergrößerten Wunden kann das Opfer verbluten. Außerdem steigt die Gefahr, dass durch das Einschneiden das injizierte Gift Zugang zu großen Gefäßen findet und sich schneller im Körper ausbreitet. Aussaugen ist laut Experten reine Verschwendung wertvoller Zeit, da der erzeugte Unterdruck niemals groß genug wird, um effektiv Flüssigkeit aus dem Gewebe zu ziehen. Stattdessen sollte das Opfer jegliche Bewegung vermeiden, um den Blutfluss zu verlangsamen, und auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus gebracht werden. Setzt das Herz oder das Atemzentrum aus, sollte man so lange wie möglich versuchen, das Opfer wiederzubeleben. Selbst das bietet jedoch keine Überlebensgarantie. Dafür sind die paar Milliliter Gift von Klapperschlange, Königskobra oder schwarzer Mamba zu aggressiv. Das musste auch Christopher Schweder erfahren.

Schlange
Die Zahl der jährlichen Todesfälle durch einen Schlangenbiss sind deutlich höher, als man annehmen würde Foto: Fotolia

Innere Blutung und Gewebeverlust

Die Basilisken-Klapperschlange wird bis zu zwei Meter lang, lebt nur in Mexiko und gehört zur Gattung der Grubenottern. Sie hat am Kopf zwei sogenannte Grubenorgane, die wie Wärmedetektoren funktionieren. Damit findet die Schlange ihre Beute. Menschen droht sie zuerst mit der Schwanzrassel, erst danach beißt sie zu. Ihr Gift kann das Gewebe derart zerstören, dass die betroffenen Gliedmaßen innerlich ausbluten. Nerven, Muskeln und Haut werden großflächig zerstört. Ist kein Gegengift verfügbar, hilft nur noch eine Amputation.

15 Stunden bis(s) zum Atemstillstand

Von ihrem Namen sollte man nicht auf ihr Zuhause schließen. Denn die Korallenotter lebt nicht im Meer, sondern in Wäldern und Sümpfen. Es gibt 80 verschiedene Arten, die auf beiden amerikanischen Kontinenten vorkommen. Ihr Nervengift lähmt innerhalb kürzester Zeit die gesamte Muskulatur. Nach 13 bis 15 Stunden ohne Antiserum kann das Opfer nicht mehr atmen.

Was passiert, wenn eine schwarze Mamba zubeißt?

In zwei Jahren fotografiert Mark Laita mehr als 100 Schlangen, setzt die tödlichen Schönheiten vor schwarzem Hintergrund in Szene. Zwei Jahre passiert nichts, bis vor sechs Monaten eine schwarze Mamba ihre Giftzähne in seinen Unterschenkel gräbt. Das Unglaubliche: Laita bemerkt es nicht einmal – erst als er seine Aufnahmen genauer betrachtet, fällt ihm der versehentlich ausgelöste Schnappschuss auf. Aber wie kann es sein, dass der Fotograf noch lebt? Immerhin injiziert eine schwarze Mamba normalerweise bis zu 400 mg Nervengift bei einem Biss. Eine Dosis, die bei einem Menschen nach 20 Minuten zum Atemversagen führt. Die Lösung des Rätsels: In zwei von zehn Fällen platziert die schwarze Mamba einen Trockenbiss, bei dem sie kein Gift abgibt. Das macht die schwarze Mamba nur, um ihr Revier zu verteidigen. Oder weil sie sich bedrängt fühlt. Aus einem dieser Gründe muss die schnellste Schlange der Welt mit 20 km/h auf das Bein des Fotografen zugerast sein, hinterließ aber nur vier feine Bissmarken. Selbst der größte Killer lässt eben auch mal Gnade walten.

Cocktail der Höllenqualen

Der Arm sieht aus, als würde er platzen, das Gewebe hat sich schon dunkel verfärbt: Wer eine Hagens Bambusotter reizt, sollte sich auf höllische Schmerzen gefasst machen. Der Giftcocktail der knapp einen Meter langen Schlange aus Südostasien ist sehr komplex. Er greift vor allem das Gewebe an. Opfer erleiden oft eine Nekrose, bei der das Muskelgewebe abstirbt. Die gute Nachricht: Die Schlange produziert nicht genug von dem teuflischen Gift, um einen ausgewachsenen Menschen mit einem Schlangenbiss zu töten.

Inlandtaipan
Der Inlandtaipan spritzt vor allem Nervengift. Das Gift eines Bisses könnte 230 Menschen töten Foto: Fotolia

Wie tief dringt eine Todes-Spritze ein?

Die Gabunviper wird bis zu zwei Meter lang. Sie ist vor allem aufgrund ihrer außerordentlich langen Gifthauer gefürchtet. Ihre beiden Zähne werden bis zu 50 Millimeter lang. Damit dringt die Schlange bei einem Biss tiefer in das Gewebe ihres Opfers ein als jede andere Schlange der Welt – und injiziert dabei bis zu 200 Milligramm Nerven- und Gewebegift. Das hat fatale Folgen: Die Toxine lösen innerhalb weniger Stunden die Gefäße auf, es kommt zu inneren Blutungen, das Gewebe wird zerstört, und die wichtigsten Schaltzentralen im Gehirn werden außer Gefecht gesetzt. Bestialische Schmerzen werden erst durch den Tod durch Atemstillstand beendet.

Die giftigsten Schlangen-Arten der Welt

Die giftigsten Schlangenarten der Welt können Menschen in Minuten töten. Wie stark ein Gift ist, messen Forscher mithilfe des Faktors LD 50 (letale Dosis). Tierversuche haben gezeigt: Dieser Wert entspricht der Giftmenge pro Kilo Körpergewicht, die benötigt wird, um die Hälfte der Gebissenen zu töten. Das bedeutet: Je niedriger der LD 50-Wert ist, desto stärker ist das Gift. Zum Vergleich: Die Kreuzotter hat einen LD 50-Wert von 6,45 mg.

Ein Biss – 230 Leben

Der Inlandtaipan spritzt vor allem Nervengift. Das Gift eines Bisses könnte 230 Menschen töten. Heimat: das Outback in Australien. LD 50: 0,025 mg

In 30 Minuten im Koma

Das Gift der Gemeinen Braunschlange kann uns in 30 Minuten ins Koma versetzen. Heimat: Neuguinea und Australien. LD 50: 0,053 mg

Lebenschance 50/50

Östliche Tigerschlangen (Heimat: Australien) injizieren nur bei jedem 2. Biss ihr Gift. Wenn sie es tun, droht Opfern nach 5 Minuten der Atemstillstand. LD 50: 0,12 mg

Albtraum der Taucher

Das Gift der aggressiven Schnabelkopf-Seeschlange (Australien, Asien) lähmt den gesamten Körper und führt innerhalb von 2 bis 8 Stunden zum Tod. LD 50: 0,16 mg

Bein oder Leben?

Die Todesotter flutet ihre Opfer mit nerven- und gewebezerstörendem Gift. Wer überlebt, verliert oft die betroffenen Gliedmaßen. Heimat: Australien. LD 50: 0,4 mg

Wenn, dann richtig

Australische Kupferköpfe sind scheu. Reizt man sie jedoch, injizieren sie extreme Mengen ihres Nervengifts. Man kann innerhalb von 24 Stunden sterben. LD 50: 0,56 mg

Gefährliche Nachbarin

Keine Schlange tötet in Südafrika mehr Menschen. Die Kapkobra liebt die Nähe von Bauernhöfen. Das Gift eines Bisses kann 6 Menschen töten. LD 50: 0,565 mg

Herzschocker

Nach dem Biss der Papua-Schwarzotter (Heimat: Neuguinea) zieht sich das Herz zusammen. Das Nervengift kann zu einem tödlichem Infarkt führen. LD 50: 1,09 mg

Aggro-Streifen

Australische Stephen's-Banded-Schlangen haben nicht den höchsten LD-Wert, sind dafür aber extrem aggressiv. Ihr Nervengift wirkt in Minuten. LD 50: 1,36 mg

Muskelfeind

Das Gift der Östlichen Kleinaugenotter zerstört die Muskelzellen. Folge: Verlust der Kontrolle über die Gliedmaßen. Heimat: Australien. LD 50: 2,67 mg

Königskobra
Die Königskobra zählt zu den gefährlichsten Schlangenarten der Welt: Das Gift aus einem Schlangenbiss würde reichen, um 20 Männer zu töten Foto: Fotolia

Die Anatomie einer tödlichen Waffe

Sie produziert schon bei einem Biss genug Gift, um 20 Männer in einer Stunde zu töten. Die Zähne der Königskobra sind wie Kanülen, mit denen sie ihren Opfern eine Spritze aus lähmendem Sekret verpasst. Das Gift zerstört die Nervenbahnen des Opfers, oft ist das eine andere Schlange. Während die Beute komatös auf dem Boden liegt, wird sie bei lebendigem Leibe verspeist. Im Gegensatz zu Kobras setzen Vipern auf Gewebegift. Ihr Sekret attackiert das Gewebe des Gebissenen und führt zur Blutgerinnung. Wer den Angriff übersteht, muss mit dauerhaften Schäden leben. Übrigens: 40 Kobraarten können sogar ohne Biss töten. Das Geheimnis: Ihre Zähne haben eine weite Öffnung, durch die sie nicht nur injizieren, sondern auch spucken können. Die Speikobra schleudert ihr Gift mit einer speziellen Kopfbewegung bis zu vier Meter durch die Luft. Ihr Ziel: die Augen des Gegners. Wenn die Speikobra trifft, kann das Opfer erblinden.

Giftsystem

So funktioniert die Injektion: Schlangen produzieren ihr Gift in zwei Oberlippendrüsen, die mit den Fangzähnen verbunden sind. Wenn sie beißen, spannen sie ihre Kiefermuskeln an. Das erhöht den Druck auf die Giftdrüse und aktiviert die Spritze.

Einziehbarer Muskel

Einige Arten können ihre Giftzähne einziehen wie Krallen. Wenn sie beißen wollen, zieht sich der Muskel zurück, die Giftzähne werden freigelegt.

Giftzähne

Die Fangzähne sitzen am Oberkiefer und funktionieren wie Kanülen. Beim Biss fließt das Gift hindurch.

"Lasst mich ster ...", schreibt Joe Slowinsky auf einen Zettel

Wie viel Zeit bleibt einem Menschen ohne Gegengift? "Verdammt, eine Krait", schreit Joe Slowinsky, als er in den Beutel greift. Sein Assistent hat sich geirrt: Die eingefangene Schlange ist keine ungefährliche Dinodon, der Forscher wurde soeben von einer hochgiftigen Gebänderten Krait gebissen. Und das mitten im Dschungel von Myanmar, weit weg vom nächsten Krankenhaus. Der Feldbiologe verfällt dennoch nicht in Panik. Es ist sieben Uhr am Morgen, der 38-Jährige setzt auf den Faktor Zeit. In 48 Stunden würde sein Körper das Neurotoxin ausgeschieden haben, so seine Berechnung. Eine halbe Stunde später beginnt seine Hand zu kribbeln, Slowinsky weiß: Er darf nicht in Ohnmacht fallen, muss seine Atmung aufrechterhalten. Doch die lähmende Wirkung des Gifts breitet sich unaufhaltsam in seinem Körper aus. Am Vormittag werden seine Augenlider schwer, er kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Der Forscher informiert sein Expeditionsteam. "Sollte ich mich übergeben, wird es ernst", sagt er. Am Nachmittag setzt seine Atmung aus, und das Team muss ihn von nun an Mund zu Mund beatmen. "Blast kräftiger", schreibt er auf ein Blatt Papier; ein paar Minuten später: "Lasst mich ster ..." Um drei Uhr morgens kann er nur noch mithilfe seines großen Zehs kommunizieren. Um 12.25 Uhr am nächsten Vormittag hört sein Herz auf zu schlagen. Innerhalb von 29 Stunden hat das Gift der bleistiftdünnen Krait seinen gesamten Körper funktionsunfähig gemacht. Slowinskys 48-Stunden-Regel hat nicht funktioniert.