Mangelhafte Überwachung: Virologen warnten vor dieser Folge
Trotz der weltweit grassierenden Pandemie leistet sich Deutschland noch immer eine mangelhafte Viren-Überwachung bei SARS-Erregern – anders als zum Beispiel Großbritannien. Virologen bemängeln dies schon länger. Und warnten vor dieser Folge.
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Die Coronavirus-Mutation B.1.1.7. wurde in Großbritannien entdeckt – und das ist kein Zufall: SARS-Viren werden dort in großem Umfang analysiert, um Veränderungen schnell identifizieren und entsprechend reagieren zu können. Ganz anders bei uns in Deutschland, wo namhafte Virologen eine mangelhafte Viren-Überwachung beklagen. Schon vor Ausbruch der Pandemie haben sie daher vor der Folge gewarnt und Gesundheitsminister Spahn aufgefordert einzugreifen, wie jetzt unter anderem tagesschau.de berichtet.
Warnung vor mangelhafter Viren-Überwachung schon im November
Bereits im November 2019 haben sich demnach die Gesellschaft für Virologie (GfV) und die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie gemeinsam an Jens Spahn gewandt. In einem Schreiben betonten sie die Dringlichkeit, dass der Gesundheitsminister eingreifen müsse – sonst könnte ein großer Teil der berufenen Expertenlabore ihre Arbeit nicht mehr erfüllen. Sollte es zu einem Virenausbruch kommen, fehle „die Möglichkeiten der molekularen Surveillance“, wie es in dem Schreiben heißt.
Surveillance ist der Fachausdruck für die Überwachung über den genetischen Fingerabdruck. Dabei wird eine Genom-Sequenzierung vorgenommen. Das Genom ist das Erbgut des Virus’ – eine Veränderung von Teilen, also Sequenzen, bei der Weiterverbreitung ist völlig normal. Deshalb ist eine Überwachung so wichtig, denn nur so können diese Mutationen rechtzeitig gefunden werden.
Viren-Überwachung auf dem „Niveau eines Entwicklungslandes“
Am 22. Dezember 2020 hat die GfV nochmals dazu Stellung genommen und eine Verstärkung der „systematischen molekularen Surveillance in Deutschland“ gefordert. Einer der Unterzeichner der Stellungnahme ist Prof. Dr. Hartmut Hengel, Leiter der Virologie der Universität Freiburg. Er wird noch deutlicher: „Wir sind in Deutschland, was die molekulare Überwachung des Coronavirus angeht, wirklich miserabel“, so Hengel, und weiter: „Wir sequenzieren ohne repräsentative Probenerfassung auf dem Niveau eines Entwicklungslandes.“
In der Tat sprechen die Zahlen für sich: Während in Großbritannien bei jedem 15. positiven Corona-Test eine Genom-Sequenzierung vorgenommen wird, gilt dies in Deutschland nur für jeden 900. Test. Allerdings sind die Briten weltweit führend. Sie verfügen über ein eigenes Genom-Sequenzierungs-Konsortium (COG-UK) – es gibt kaum vergleichbar starke Netzwerke in diesem Bereich. So stammen 120.000 der bisher 270.000 veröffentlichten Genome aus dem Datenpool des COG. Daher weiß man in Großbritannien auch, dass das mutierte Virus mittlerweile für den überwiegenden Teil der Neuansteckungen mit SARS-CoV-2 verantwortlich ist. Zum Vergleich: In Deutschland wurden seit Beginn der Pandemie rund 2.000 Genome von spezialisierten deutschen Laboren entschlüsselt.
Die Folge: eine unkontrollierte Virus-Ausbreitung in Deutschland
Durch die mangelhafte Viren-Überwachung ist völlig unklar, wie weit sich B.1.1.7. in Deutschland bereits ausgebreitet hat. Virologen kritisieren diesen Zustand scharf: „Da diese Strukturen bisher fehlen, haben wir momentan nur ein sehr lückenhaftes und verzerrtes Bild von SARS-CoV-2-Varianten und würden es wahrscheinlich erst sehr spät bemerken, wenn neue Varianten in Deutschland zirkulieren“, so Prof. Dr. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Ob die mutierte Variante beispielsweise für den weiteren Anstieg der Infektionszahlen trotz Lockdowns bei uns sorgt? Unklar: Die Datengrundlage in Deutschland sei für belastbare Aussagen zur Verbreitung einzelner SARS-CoV-2-Varianten nicht ausreichend.
Finanzielle Unterstützung des Bundes gefordert
„Ein Grund für die fehlenden Strukturen in Deutschland ist die fehlende finanzielle Ausstattung für die SARS-CoV-2-Sequenzierung“, erläutert Prof. Dr. Timm. Auch in dem oben genannten Schreiben an Gesundheitsminister Spahn wird eindringlich auf fehlende finanzielle Mittel hingewiesen: „Die finanzielle Ausstattung vieler Nationaler Referenzzentren und Konsiliarlabore durch das Bundesgesundheitsministerium ist seit vielen Jahren völlig unzureichend, intransparent und erfolgt auf stereotype Weise durch Pauschalbeträge“. So war das zugewiesene Budget für das Berliner Konsiliarlabor an der Charité nach Angaben des Institutsdirektors Prof. Dr. Christian Drosten bereits Ende Januar 2020 aufgebraucht.
Würden die Kosten von 100 bis 150 Euro pro Untersuchung ersetzt, könnten es sehr schnell eine ausreichende Überwachung auch in Deutschland geben – wie es zum Beispiel bei Influenza- oder Masernviren schon seit Jahren der Fall ist. Dieser Meinung ist auch der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, Prof. Dr. Hendrik Streeck: „Wenn wir den Auftrag hätten, jede hundertste oder zehnte Probe zu sequenzieren, dann würden wir das sofort tun.“ Dies wäre nicht nur für Coronaviren, sondern auch andere Viren wichtig, um Mutationen rechtzeitig ausfindig zu machen.
Fast ein Jahr und zwei Monate nach dem eindringlichen Appell der Virologen hat nun auch Jens Spahn reagiert: Nach den neuesten Beschlüssen der Bund-Länder-Konferenz plant das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in den nächsten Wochen, eine entsprechende Verordnung zur verstärkten Genom-Sequenzierung zu erlassen. So soll auch Deutschland dazu beitragen, Virus-Mutationen schnell zu erkennen und ihre Verbreitung einzudämmen. Die Warnungen der Virologen vor mangelhafter Viren-Überwachung haben damit spät, aber hoffentlich noch rechtzeitig Gehör gefunden
Quellen:
Mutationen in SARS-CoV-2-Variante in UK und Erbgut-Analysen in Deutschland in: sciencemediacenter.de
Spahn ignorierte Virologen-Warnung in: tagesschau.de
Gesundheitsministerium will molekulare Surveillance von Virusmutanten regeln in: aerzteblatt.de
Aktuelle Stellungnahme der GfV zur Sequenzierung von SARS-CoV-2 in Deutschland in: Gesellschaft für Virologie e.V.
Auf der Suche nach Corona-Mutationen in: zdf.de
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