Stendhal-Syndrom: Psychose durch zu viel Kultur?

Kann ein Übermaß an Kultur wirklich zur Psychose führen? Welche Symptome hat diese psychische Störung? Und warum tritt das Stendhal-Syndrom gerade in der italienischen Kunstmetropole Florenz so häufig auf?

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Kunst kann viele Reaktionen hervorrufen - nicht alle davon sind gesund Foto: iStock/KatarzynaBialasiewicz

Was ist das Stendhal-Syndrom?

Mit dem Begriff des Stendhal-Syndroms wird eine vorübergehende psychische Störung bezeichnet, die durch eine kulturelle Reizüberflutung ausgelöst wird.

Beim Betrachten von beeindruckenden Gemälden, beim Gang durch historisch bedeutende Bauwerke und in Gegenwart unschätzbarer Kunstgegenstände kann einem schon mal schwindelig werden.

Symptome des Stendhal-Syndroms

Panikattacken, eklatante Wahrnehmungsstörungen und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen zählen zu den typischen Symptomen, die mit dem Stendhal-Syndrom in Verbindung gebracht werden – ausgelöst durch den intensiven Kontakt mit Kunst.

Erstmals beschrieben wurde ein derartiger Fall in der italienischen Stadt Florenz. Hier zählt man auch die meisten Patienten, die sich mit der Diagnose in psychiatrische Behandlung begeben. Der erste Betroffene war ein gewisser Stendhal.

Erste Dokumentationen des Stendhal-Syndroms

Die geballte Kunst in Florenz kann einem schon mal den Atem rauben. Dass allerdings jemand beim Gang durch die Uffizien in Schockstarre verfällt und Wahnvorstellungen bekommt, ist schwer zu glauben. So aber erging es dem französischen Schriftsteller Stendhal (bürgerlich Marie-Henri Beyle) 1817, wie er in seinem Reisebuch “Promenades dans Rome, Naples et Florence” beschrieb.

Bereits beim Betreten der Stadt habe ihn der Wahn befallen und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Weiter notierte er einen Gefühlszustand der Verliebtheit, vermerkte aber auch einen enormen Erschöpfungszustand.

Was zunächst so klingt, als hätte sich ein Tourist etwas zu viel vorgenommen und sei am Ende des Tages einfach nur müde, wurde später zu einem Krankheitsbild stilisiert, das aber keiner anerkannten Diagnose entspricht.

Drei Gruppen des Stendhal-Syndroms

Etwa 170 Jahre nach Stendhal veröffentlichte die italienische Psychologin Graziella Magherini eine Studie, in der sie mehr als 100 Krankheitsfälle skizziert, welche die typischen Symptome des Stendhal-Syndroms aufweisen. Allesamt aus Florenz.

Die Veröffentlichung ihrer Untersuchungen aus der Zeit als Leiterin der psychologischen Abteilung des Florentiner Krankenhauses Santa Maria Nuova machte das Phänomen schnell international bekannt. Magherini ordnete die Krankheit in drei Kategorien ein:

  • Gruppe 1: Denk- und Wahrnehmungsstörungen, Halluzinationen und wahnhafte Stimmungen, Schuldgefühle
  • Gruppe 2: Affektstörungen, Allmachtsfantasien, existenzielle Angst, Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit
  • Gruppe 3: Panikattacken, Ohnmachtsanfälle, erhöhter Blutdruck, Bauchschmerzen, Krämpfe

Laut Magherinis Studie handelte es sich bei den Betroffenen, denen sie das Stendhal-Syndrom diagnostizierte, im Durchschnitt um weibliche, ledige Touristen, die zwischen 26 und 40 Jahre alt waren und meist aus den USA oder Mittel- und Nordeuropa stammten. Mehr als 50 Prozent der Patienten waren vorher bereits schon einmal in psychologischer Behandlung.

Umstrittene Existenz des Stendhal-Syndroms

Während im Nachgang das Stendhal-Syndrom vor allem von Reisemedizinern eingehender untersucht wurde, herrscht bei anderen Psychologen bis heute Skepsis. Sie diskutieren kontrovers den Zusammenhang von kultureller Reizüberflutung und psychischer Erkrankung, die sich in Form einer Neurose (= psychische oder psychosoziale Erkrankung, die keine organische Ursache hat) zeigt.

Jene Wissenschaftler werfen der italienischen Psychologin Magherini vor, zu viele Aspekte miteinander zu vermischen: Sie würde anekdotische Beobachtungen mit psychopathologischen (krankhaft verändertes beziehungsweise gestörtes Erleben und Verhalten) in einen Topf werfen und daraus Schlüsse ziehen.

Behandlung des Stendhal-Syndroms

Handelt es sich um einen besonders schweren Fall von Neurose, werden die Patienten in einer psychiatrischen Klinik behandelt – zumeist im Krankenhaus Santa Maria Nuova.

Unter Gabe von Medikamenten (wie Diazepam) zur Behandlung von Angstzuständen oder epileptischer Anfälle lösen sich die meisten Symptome bald auf und kehren auch nicht wieder zurück. Langfristige Schäden durch das Stendhal-Syndrom sind nicht belegt.

Übrigens: Auch andere Städte haben eigene Syndrome. Beim Jerusalem-Syndrom glauben Touristen beim Besuch der heiligen Stadt kurzzeitig, sie seien eine Figur aus dem Alten oder Neuen Testament. Das Paris-Syndrom lässt – hauptsächlich – japanische Touristen verzweifeln, wenn sie in der französischen Hauptstadt die starke Differenz zwischen der Erwartungshaltung und der Realität in der angeblich so romantischen Stadt entdecken. Vom Venedig-Syndrom spricht man populärwissenschaftlich seit der Veröffentlichung einer Studie über vermehrte Suizide und Suizidversuche von Ausländern und Touristen in der Lagunenstadt.

Quellen:

  • Stendhal-Syndrom, in: medlexi.de
  • Wenn Kunst krank macht, in: dw.com
  • Bamforth, I. (2010). Stendhal's Syndrome. Br J Gen Pract, 60(581), 945-946.
  • Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP: Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. Springer-Verlag 20