Sarin: Diese Wirkung hat das Giftgas im Körper

Es ist lautlos, unsichtbar und geruchlos. Und doch tötet der Kontakt mit Sarin innerhalb von Minuten. Wie wirkt Sarin und welche Symptome löst der Kontakt mit dem Giftgas im Körper aus?

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Es ist zwei Uhr nachts in Ghuta, einem Vorort der syrischen Hauptstadt Damaskus. „Eine ruhige Nacht“, denkt Hassan, einer der am Aufstand gegen Machthaber Baschar al-Assad beteiligten Rebellen. Doch Sekunden später hört Hassan mehrmals das Zischen von Raketen. Es endet mit einem Geräusch, das an das Platzen eines Wassertanks oder das Öffnen einer Cola-Flasche erinnert. Blindgänger? Die Wahrheit ist eine andere: In jeder der Raketen stecken statt Sprengstoff 56 Liter Sarin, einer der giftigsten Kampfstoffe der Erde. Hassan befindet sich zu diesem Zeitpunkt im fünften Stock eines Hochhauses – dieser Umstand rettet ihm das Leben.

1938 halten ihn die Nazis erstmals in den Händen: den damals tödlichsten Stoff der Welt – Sarin. Benannt ist er nach seinen Erfindern Schrader, Ambros, Ritter und von der Linde. „In Deutschland untersuchte man tausende Verbindungen auf ihre mögliche Eignung als Kampfstoff, trotz eines Verbots im Vertrag von Versailles“, sagt der Militärexperte Michael Höfer.

Doch die Alliierten machen der Wehrmachtsführung unmissverständlich klar: Beim Einsatz von Giftgas wären chemische Vergeltungsschläge gegen deutsche Städte die unmittelbare Folge. Im Zweiten Weltkrieg spielt Sarin daher keine Rolle.

Später aber steigen auch die Siegermächte in die Produktion ein. Allein im US-Bundesstaat Utah lagern zu Spitzenzeiten 5.500 Tonnen der nicht natürlich vorkommenden Substanz. Ihr Einsatz gilt als unmenschlich: Bis 1997 unterschreiben fast alle UN-Staaten – nicht jedoch Syrien – eine Konvention, die den Einsatz von chemischen oder bakteriologischen Waffen ächtet.

Giftgas Sarin: Die Wirkung hängt von unterschiedlichen Faktoren ab

Die Überlebenschancen bei Kontakt mit Sarin variieren mit der Dauer des Kontakts, der Wetterlage und dadurch, wie luftdicht der Raum ist, in dem eine Person sich aufhält – und natürlich mit der Entfernung von der Quelle.

Sarin: Überlebenschancen und Symptome je nach Entfernung

Entfernung von der Quelle

Überlebenschance

Symptome

1500 m

99%

Verengte Pupillen, Sehstörungen, Kopfschmerzen

500 m 

90%

Atemnot, Engegefühl in der Brust, verstärkter Speichelfluss

100 m

50%

Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Bewusstseinsstörungen mit Krämpfen

10 m

1%

Starke Krämpfe am ganzen Körper, schließlich Atemlähmung

Sarin-Gas: Die Symptome nach dem Kontakt

Bereits bei einer Konzentration von zwei Milligramm pro Kubikmeter Luft zeigen sich nach einer Minute Kontakt erste Vergiftungserscheinungen: Die Pupillen verengen sich, die Sicht wird trüb, das Atmen fällt schwer. Für Militärchemiker ein Erfolg. Sie messen die Wirksamkeit von Giften mit der Kenngröße LCt50. Sie gibt an, wie viel Milligramm des Stoffs in einem Kubikmeter Luft vorhanden sein müssen, um einen Menschen bei einer Einwirkzeit von einer Minute mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu töten.

Je niedriger der Wert ist, desto giftiger ist die Substanz. Phosgen, eine im Ersten Weltkrieg großflächig eingesetzte C-Waffe, hat einen LCt50-Wert von 3.200. Senfgas einen von 1.500, Tabun 400. Mit einem LCt50-Wert von 100 stellt Sarin die anderen Kampfstoffe weit in den Schatten: Die Aufnahme von nur einem Milligramm Sarin genügt, um einen Menschen zu töten. Dazu reicht ein einminütiger Aufenthalt in mit 100 Milligramm pro Kubikmeter verseuchter Luft aus. Das entspricht einem kaum messbaren Verdünnungsgrad von etwa 1:13.000.

Wie wirkt Sarin?

Normalerweise übermitteln Nervenzellen Reize mithilfe von chemischen Botenstoffen wie dem Neurotransmitter Acetylcholin. Das Enzym Acetylcholinesterase muss ihn wieder abbauen, bevor ein neuer Reiz erfolgen kann. Nur zwei Tausendstel Sekunden dauert dieser Vorgang.

Sarin verhindert den Abbau, die Nervenzellen werden mit Acetylcholin überflutet, sie feuern in der Folge ohne Pause. Das Opfer verliert die Kontrolle über seinen Körper – bis zum endgültigen Kollaps.

Wie schnell wirkt Sarin, aufgenommen durch ...

...die Lunge: Atemlähmung ist bereits nach 1 Minute möglich

...die Haut: Bis zu 18 Stunden verzögerte Intoxikation

...die Augen: Symptome treten sofort auf, Tod nach 1 bis 10 Minuten

...die Nahrung: Geringste Dosen sind nach 1 Minute tödlich

Sarin: Das Gas breitet sich kilometerweit aus

Bei Windstille kann sich Sarin in einem Umkreis von bis zu 20 Kilometern ausbreiten, bevor es zerfällt. Warme, feuchte Luft beschleunigt den Zerfall. Im Sommer wirkt die Substanz daher nur einige Stunden, im Winter bis zu zwei Tage.

In Syrien musste das Angriffsgebiet für ungeschützte Helfer mindestens drei Stunden gesperrt bleiben. All jene, die vorher zum Tatort geeilt waren, vergifteten sich ebenfalls. Eine Gasmaske allein schützt vor der tödlichen Wirkung nicht, denn der Körper nimmt Sarin auch über die Haut auf. „Ein Schutz ist nicht möglich, außer man trägt einen Ganzkörperanzug“, erläutert Gunnar Jeremias, Leiter der Forschungsstelle Biowaffenkontrolle an der Universität Hamburg.

Sarin-Gas: Wirkung im Augenzeugen-Bericht

Sarin ist so tödlich, dass nur wenige dokumentierte Augenzeugenberichte über seine genaue Wirkungsweise existieren. Eine der wenigen Ausnahmen ist ein fehlgeschlagenes US-Militärexperiment: Ein Mitarbeiter gerät versehentlich ohne Schutzanzug auf kurz zuvor großflächig verseuchten Wüstenboden in Utah. Er bemerkt nicht, dass sein Körper sofort von Milliarden Methylfluorphosphonsäureisopropylester-Molekülen, so der chemische Name von Sarin, geentert wird.

Die Moleküle dringen gleichzeitig durch Lunge und Haut in seinen Körper ein, ein lebensgefährlicher Countdown startet. Nur zehn Sekunden später beginnt der 32-Jährige sich zu krümmen. „Noch im Gehen verkrampft ein Arm in unnatürlicher Position hinter dem Kopf“, steht im offiziellen Untersuchungsbericht über die Symptome des Vergiftungsprozesses. „Kurz darauf erfolgt der Zusammenbruch“.

„Etwa eine Minute lang durchzucken heftige Krämpfe den gesamten Körper, begleitet von krächzenden Atemgeräuschen. Danach werden die Symptome schwächer. Der Blick erstarrt. Vereinzelt erfolgt noch ein Schnappen nach Luft. Zwei Minuten später ist kein Puls mehr fühlbar.“

Panisch injizieren ihm seine Kollegen das Gegenmittel Atropin in die Hüfte. NATO-Soldaten tragen bei Risikoeinsätzen immer zwei Milligramm Atropin zur Selbstinjektion bei sich. Der zu diesem Zeitpunkt am stärksten sarinvergiftete Mensch der Welt überlebt den Unfall wie durch ein Wunder: Nach drei Stunden künstlicher Beatmung ist er erstmals wieder ansprechbar.

Die syrischen Giftgasopfer hatten dieses Glück nicht. Nach kurzer Zeit ging den Ärzten das Atropin aus. „Am Ende hatten wir nur noch Zwiebelsaft zur Behandlung übrig“, erklärt ein Arzt aus dem Nothospital Irbin. Und Assad kennt keine Nachschubprobleme: Schätzungsweise 700 Tonnen Sarin sollen sich in seinem Besitz befinden – theoretisch genug, um die Bewohner von 100 Erden auszulöschen.