Psycho-Medikamente: Fluch oder Segen für Schizophreniekranke?

Die sind doch nur für Verrückte, oder? Von wegen: Rund 80 Millionen Psycho-Pillen werden jedes Jahr in Deutschland gekauft. Tendenz steigend. Aber helfen die Medikamente wirklich?
Psychopharmaka sind nur sinnvoll, wenn eine Therapie folgt
Sie machen süchtig – und schwemmen auf. Stellen Menschen ruhig – und wirken ausgleichend. Bringen Angstzustände – und Jubel-Gefühle. Die einen nennen sie "Psycho-Pillen", die anderen "Glücksbringer". Gemeint sind Psychopharmaka – synthetisch oder auf pflanzlicher Basis hergestellte Medikamente, die Geist und Seele eines Menschen beeinflussen. Aber wie gefährlich sind sie?
Fakt ist: Sie sind gefragt wie nie. Rund 80 Millionen Packungen Psychopharmaka werden jährlich in Deutschland verkauft. "Ein Grund: Mit zunehmender Arbeitslosigkeit und Armut steigen bei vielen Menschen Stress und Ängste", sagt Hildegard Esser (51), Leiterin bei der Hamburger Gesundheitsbehörde. "Folgen sind psychische Probleme und Störungen sowie Depressionen und Panik."
Nach Experten-Schätzungen gehen sechs bis zehn Millionen Deutsche jährlich mit diesen Symptomen zum Arzt. Viele von ihnen bekommen Psychopharmaka verschrieben – Frauen doppelt so oft wie Männer. "Leider denken die meisten, dass die Pillen allein ihre Welt wieder in Ordnung bringen", sagt Hildegard Esser. "Das ist aber falsch. Psychopharmaka können sinnvoll sein – doch meist muss auch eine Therapie folgen."
Die hoch dosierten Psychopharmaka haben starke Nebenwirkungen
Denn sonst kann der Griff zur Glücks-Pille fatale Folgen haben, ähnlich wie beim Alkohol. „Eine Tablette, und schon geht es mir gut – solch ein Denken kann mitunter zur Abhängigkeit führen", erklärt Prof. Dr. Joachim Demling (56), Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Erlangen. Und das ist nicht die einzige Gefahr. Hoch dosierte Psycho-Pillen haben starke Nebenwirkungen: Sehstörungen, Mundtrockenheit, Verwirrung oder Sexualstörung.
Trotzdem werden immer mehr Psychopharmaka verschrieben. "In den letzten 10 Jahren hat sich in der Forschung viel getan", erklärt Prof. Dr. Joachim Demling. "Früher konnte tatsächlich der Inhalt einer Packung Antidepressiva tödlich sein, weil die Vergiftungsgefahr sehr hoch war. Das ist heute nicht mehr so. Auch die Begleiterscheinungen sind stark reduziert worden." Der Mediziner ist von den positiven Effekten überzeugt: "Antidepressiva sorgen dafür, dass das körpereigene Serotonin, auch als Glückshormon bekannt, besser im Gehirn wirken kann." Das sorgt für Zufrieden- und Ausgeglichenheit. "Dabei können zwar Unruhe und Übelkeit auftreten – aber das ist nur selten der Fall."
Das Gleiche gilt für so genannte Neuroleptika. Sie werden vor allem gegen Unruhezustände und Psychosen verschrieben. Früher musste bei der Einnahme mit Bewegungsstörungen gerechnet werden. Unkontrolliert schwenkten Patienten ihre Arme, fingen laut an zu schmatzen. Bei den Mitteln, die heute auf dem Markt sind, können diese Nebenwirkungen fast ausgeschlossen werden. Aber: "Das Neueste muss nicht immer das Beste sein", sagt Bruno Müller-Oerlinghausen (67), Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. "Es gibt über 30 verschiedene Antidepressiva. Ein Arzt sollte nicht einfach ein neues verschreiben und meinen, das wäre jetzt das richtige. Die Medikamente müssen für jeden Patienten individuell bestimmt werden. Sonst kann es zu heftigen Nebenwirkungen kommen – bis zu Suizidgedanken. Deshalb sollte man immer Kontakt zum Arzt haben."
Diese Meinung teilt auch Dr. Elke Hammes. Die 41-jährige Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie aus Wiesbaden stellt klar: "Die Medikamente schaffen oft nur die Basis für eine begleitende Psychotherapie." In ihrer Praxis hat sie mit Menschen zu tun, die unter Depressionen und Ängsten leiden. Besonders Frauen sind betroffen. " Job, Beziehung, Familie: Frauen müssen sich heute mehr beweisen als Männer. Wer nicht alles unter einen Hut bekommt, steht als Versagerin dar, denken viele. Sie gestehen sich eine Krise nicht ein, flüchten in Arbeit und Alltag", so Dr. Elke Hammes. "Bis sie zusammenbrechen."
Psycho-Medikamente ersetzen nicht die Suche nach der Ursache
Obwohl die Ärztin von den neueren Psychopharmaka überzeugt ist, verschreibt sie nicht jeder Patientin sofort welche. Erst wird nachgefragt: Was ist das Problem? Wo liegt die mögliche Ursache? Wie hoch ist der Leidensdruck? "Dann bekommen die nicht akut gefährdeten Patienten Informationen über Vor- und Nachteile sowie die Wirkung von Psychopharmaka mit. Damit sie mitentscheiden können: „Brauche und will ich das überhaupt?'"
Denn: Bei den Anxiolytika, wie Valium, besteht immer noch Suchtgefahr. "Deshalb sollten diese Medikamente höchstens vier Wochen genommen werden. Antidepressiva oder Neuroleptika werden in den meisten Fällen bis zu einem Dreivierteljahr verschrieben", so Professor Dr. Demling.
Eine Alternative zu chemischen Präparaten: Psychopharmaka auf pflanzlicher Basis, mit Wirkstoffen wie Johanniskraut oder Baldrian. Vorteil: Sie sind meist sehr gut verträglich, machen nicht körperlich abhängig. Nachteil: Wenn sie nicht ausdrücklich vom Arzt verschrieben werden, müssen sie selbst gezahlt werden (ab 6 Euro). "Aber auch diese Mittel sollten nicht ohne ärztlichen Rat eingenommen werden", betont Professor Demling. Sonst wird die Glücks-Pille am Ende doch zur Sucht-Pille.