Prof. Dr. Grönemeyer: Gesundheit ist eine Teamleistung

Gesundheit bedeutet zwar nicht alles, aber wie wichtig sie ist, offenbart sich oft erst in der Krankheit. Wie kaum einer in Deutschland kämpft Dietrich Grönemeyer für eine menschlichere Medizin im Sinne der Patienten. Warum Heilung Zuwendung braucht, warum Hausärzte und Teamleistung so wichtig sind, verrät Professor Dr. med. Grönemeyer in unserem Interview.

Professor Grönemeyer geht und lächelt
Professor Dr. Dietrich Grönemeyer setzt sich für eine menschliche Medizin ein, in der Teams aus Mediziner, Naturheilkundlern, Physiotherapeuten u.a. gemeinsam für Gesundheit und Wohlbefinden der Patient:innen sorgen Foto: Laura Möllemann

Dietrich Grönemeyer, einer der bekanntesten deutschen Ärzte, Wissenschaftler und Autoren kennt beide Seiten: Seit Jahrzehnten arbeitet er mit Hightech-Medizin, dennoch hat er immer auch auf Prävention und ergänzende Verfahren wie Pflanzenheilkunde gesetzt. Für ihn bedeutet Medizin, in einem Team gemeinsam mit Naturheilkundlern, Psychologen, Physiotherapeuten u.a. die besten Lösungen für Patienten zu finden. Warum das so wichtig ist, beschreibt er im Interview.

Professor Dr. Grönemeyer, wann hatten Sie Ihre ersten Berührungspunkte mit der Medizin?

Meine ersten Erlebnisse waren schrecklich. Ich war vier Jahre alt, stand nackt in einem Röntgendurchleuchtungsgerät, mutterseelenallein, keiner hat mich beruhigt. Nicht ein tröstliches Wort kam vom Arzt auf der anderen Seite des Gerätes. Im Gegenteil, er raunzte mich an, dass ich das Kontrastmittel trinken solle. Ich war massiv verängstigt. Danach hatte ich vor jedem Arzt, vor jeder Spritze Angst.

Verständlich. Warum sind Sie trotzdem Arzt geworden?

Sehen Sie, ich bin in meiner Familie in der sechsten Generation Arzt. Der Großteil meiner Verwandten war Schulmediziner, eine Tante Naturheilkundlerin. Da gab es große Streitgespräche zwischen Schulmedizin und komplementären Verfahren innerhalb der Familie, ich konnte das nicht ertragen. Und später hatte ich ein weiteres Erlebnis, als mir nach einer Nasenoperation ohne Vorwarnung die Tamponaden abrupt aus der Nase gerissen wurden, was mit größten Schmerzen verbunden war. Da habe ich mir gesagt: ich werde Arzt, ich helfe ein stückweit mit, dass es anders wird.

Prof. Grönemeyer, was bedeutet Gesundheit für Sie?

Für mich ist Gesundheit ein Begriff, der ersetzt werden sollte durch Wohlbefinden, also psychosomatisches und psychosoziales Wohlbefinden. Jemand, der im Sterben liegt, der schwer erkrankt ist, möchte ohne Qualen diese Erde verlassen oder wohlbefindlich mit seiner schweren Erkrankung umgehen. Wohlbefinden heißt für mich auch soziales Wohlbefinden und das ist ja nicht zu trennen von meinem eigenen Körper, von meiner eigenen Psyche.

Wie halten Sie sich selbst gesund?

Mein wichtigster Aspekt ist das Leben lieben! In schweren wie in guten Zeiten. Ich bin vor vielen Jahren in den Bergen abgestürzt. Ich war kurz davor, diese Erde zu verlassen, aber ich habe weiterleben dürfen. Im Fall spürte ich keine Aufgeregtheit, sondern eine extreme Ruhe. Ich hatte mich im Sturz fast schon damit abgefunden, dass es nicht gut ausgehen würde. Umso mehr freute ich mich, leben zu dürfen. Wichtig ist es, in der Gegenwart zu leben und dankbar zu sein. Ich versuche, mich bewusst zu ernähren, was nicht immer gelingt. Gut zu schlafen, mich zu bewegen, mich daran zu freuen, mit Menschen zusammen zu sein, mit meinen Kindern, meinen Enkeln, meiner Frau.

Buchcover Dietrich Grönemeyer Medizin verändern
In seinem neuesten Buch "Medizin verändern" beschreibt Prof. Dietrich Grönemeyer anhand eigener Erlebnisse und Erfahrungen, was sein Verständnis als Arzt geprägt hat – und was wir tun müssen, um als Gesellschaft zu guter Gesundheit zu finden Foto: Ludwig Verlag

Man hört häufiger, man solle sich bewegen, gut ernähren, ein soziales Umfeld pflegen. Und dennoch gibt es immer mehr chronisch kranke Menschen. Wie können Sie sich das erklären?

Abgesehen von den sozialen Problemen, mit denen man groß wird, glaube ich, dass die Medizin in den vergangenen Jahrzehnten versagt hat. Denn wir haben nie aufgeklärt. Beispiel Corona, wir wissen etwas über COVID, aber wir wissen gleichzeitig nichts. Wir wissen, dass das Immunsystem eine große Rolle spielt. Und zwar nicht nur das körperliche, sondern auch das psychische.

Wir haben keine gesundheitliche Aufklärung an den Schulen, das prangere ich schon lange an. Gesundheitsunterricht sollte in den Stundenplan aufgenommen werden, in dem Kinder etwas darüber lernen, wie man sich gesund hält und wie man sich selbst helfen kann. Und wir haben auch versagt im Sinne medialer Unterstützung bei der Aufklärung. Klar gibt es viele Informationen, aber die Linie fehlt. Am besten sieht man das bei Dr. Google. Ich finde immer Informationen, die zu meiner Situation passen, aber die Person, die einen leitet, die fehlt.

Wer könnte denn so eine Leitfigur sein?

Gerade in dieser Zeit sieht man, dass jeder Mensch die Ärztin oder den Arzt des Vertrauens braucht. Jemand, der uns an die Hand nimmt. Bei mir war das immer der Hausarzt, der über mich Bescheid wusste. Liegt der Familienfrieden im Argen, ist es ein drohender Arbeitsplatzverlust, der einen bedrückt, ist es ein Tumor, der sich gerade entwickelt? Dafür brauchst du einen Co-Piloten, also den Hausarzt, der dich in allen Gesundheitsfragen betreut.

Ist es denn der Hausarzt allein, der einen bei Gesundheitsfragen leiten könnte?

Die Rolle des Hausarztes sehe ich ergänzt um ein erweitertes Berufsfeld der Krankenschwester oder des Krankenpflegers. Man könnte den gesamten Berufsstand aufwerten, in dem dieser entsprechend ausgebildet als „Arztassistenz“ selbst tätig werden dürfte, auch wenn das viele Ärzte nicht gern hören – zum Beispiel beim Impfen, bei Ultraschalluntersuchungen oder in der psychosomatischen Betreuung der Patienten.

Wie sollte sich Medizin also verändern, wie auch der Titel Ihres neuen Buches fordert?

Man muss das System neu anpacken, es vom Kopf auf die Füße stellen! Das ist mit enormen Anstrengungen verbunden. Denn angesichts der grundsätzlichen Geburtsfehler unseres Gesundheitswesens und seiner Finanzierung wird es letztlich auf einen echten Systemwechsel hinauslaufen – auf einen Neubau anstelle der schon wiederholt misslungenen Umbauversuche. Durch eine verbesserte Prävention, durch die Verlagerung von Leistungen von stationär hin zu ambulant, zum Beispiel durch Mikrotherapie, wie ich sie begründet habe. Chronifizierung von Schmerzen könnten so verhindert und in der Folge die Ausgaben für Schmerzmittel und Psychopharmaka drastisch reduziert werden.

Wenn wir im Gesundheitssystem gleichzeitig noch investieren würden in neue Technologien, dann würden wir Gelder einsparen bzw. verdienen, was dem ganzen System zugutekäme. Eine neue Form der Krankenversicherung, eine „Priva-Setzliche“, würde ebenfalls Möglichkeiten der Refinanzierung bieten. Das hieße, gesetzlich versichert zu sein mit einer privaten Zusatzversicherung. Ein solches Modell ist doch gar nicht fremd, das kennen wir aus der KFZ-Versicherung oder auch von der Zahnzusatzversicherung.

Die Eigenverantwortung der Patienten ist ebenfalls wichtig, um gesund zu bleiben. Warum sind so viele Menschen so passiv, was ihre eigene Gesundheit betrifft?

Wir haben durch unser Krankenversicherungssystem gelernt, dass wir versichert sind – Medizin ist bezahlt, ich gehe zum Arzt und der wird mich schon gesund machen. Vorsorge ist kein Thema. Es gibt zwar Vorsorgetermine, die durch die Krankenkassen vorgegeben werden. Aber dass es so verankert ist, dass ich mich um mich selbst kümmern muss, findet nicht statt. Schon gar nicht, wenn es „weh tut“ und man sich selbst finanziell beteiligen muss. Man gibt sich quasi beim Arzt ab, man hängt sich an der Garderobe auf und sagt „jetzt mach mich mal gesund“. Wie ich in meinem Buch schreibe: „Wer nicht als Objekt behandelt werden möchte, darf sich selbst nicht als Objekt behandeln, dass er anderen zur Reparatur überlässt.“

Sie arbeiten viel mit Prävention, Lebensstiländerungen, Hausmitteln und komplementären Verfahren. Womit haben Sie gute Erfahrungen gemacht?

Ich habe immer unterstützend Pflanzenheilkunde eingesetzt. Zum Beispiel in der Mikrotherapie, mit der ich seit 30 Jahren arbeite. Dort haben wir immer Arnikasalbe zusätzlich angewendet. Das war für mich der integrative Ansatz: auf der einen Seite Kortison, auf der anderen Seite Arnika.

Mit welchen Mitteln kann jeder Einzelne seine Gesundheit stärken?

Thymianextrakte sind unschlagbar bei Erkältungskrankheiten. Thymian ist für mich eine der wirksamsten Pflanzen. Sie hat einen desinfizierenden Effekt, der sogar stärker ist als Wasserstoffperoxid. Hinzu kommt eine antibiotische und antivirale sowie eine schleimlösende Wirkung.

Solange ich denken kann, ist Ingwer als ein Hausmittel in meinem Leben, ich kenne es schon von meiner Mutter: Vor Reisen mit dem Auto haben wir Kinder Ingwerbonbons gegen Übelkeit gelutscht. Kamille zum Spülen war ebenfalls immer wichtig oder Salbei als Desinfektion für den Mund. Chili kann als Pflaster die Durchblutung bei Rückenschmerzen unterstützen.

Die Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt. Dennoch sind sie noch da, die guten alten Hausmittel…

Die sind gar nicht wegzudenken! Natürlich, wenn man politische Kampagnen fährt und versucht, die Naturheilkunde in Misskredit zu bringen, dann droht die Gefahr, dass wir das Wissen verlieren. Deswegen – das sage ich als Wissenschaftler – müsste man viel stärker in die Forschung von pflanzlichen Mitteln investieren, um herauszufinden, welche Wirkung bestimmte Pflanzenpräparate oder Homöopathika haben.Naturheilkunde und Schulmedizin schließen sich nicht aus, sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Naturmedizin sollte in unsere Hightech-Schulmedizin integriert sein. Wichtig für mich ist dabei, von leicht nach schwer zu behandeln, mit einfachen Methoden anfangen, bevor man mit Kanonen auf Spatzen schießt.

Ich wäre froh, wenn genauso viel Gelder wie in Hightech-Medizin auch in Pflanzenheilkunde oder in Therapien investiert werden, die mit den Händen ausgeübt werden wie Massage oder Osteopathie. Denn jeder Therapeut, der mit den Händen die Körperstrukturen erfasst, ist genauso wichtig wie ein Operateur. Er wäre aber in der Prävention noch viel wichtiger, denn er spürt die faszialen Änderungen mit den Händen. Wir müssen uns die Frage stellen, was uns Medizin und Wohlbefinden wert ist, entsprechend müssen wir in Wissenschaft und Forschung investieren.

Professor Dr. Grönemeyer, Sie schreiben, Zuhören, Anschauen, Riechen, Intuition seien wichtig, wenn man Menschen behandelt…

Und Reden, mit den Menschen reden, zuhören können. Zuwendung heißt auch, zuhören zu können, um erst einmal herauszufinden, wo der Mensch, das Individuum steht. Welche Symptome hat er, wie geht er, wie ist sein körperlicher Ausdruck? Das Erfassen des Menschen ist nicht in fünf Minuten möglich, wie es normalerweise Ärzte in der Praxis tun müssen. Du musst dir ein Bild machen. Da bin ich meinem Landarzt dankbar, der mich ausgebildet hat. Er sagte: „Du findest 90 Prozent raus, wenn du deine Sinne aktivierst.“

Leider lernen wir das in der medizinischen Ausbildung nicht mehr, wir erfahren, dass Technik alles ist. Wir lernen nicht zuzuhören und auch nicht, dass man in einem Team multidisziplinär gemeinsam mit Naturheilkundlern und Psychologen die besten Lösungen für den Patienten findet. Die Wirbelsäule gehört zum Beispiel weder dem Neurochirurgen noch dem Anästhesisten noch dem Schmerztherapeuten oder dem Radiologen. Sie gehört dem Patienten und der braucht die beste Therapie des Teams.

Und mit der besten Therapie kann man durchaus alt werden. Was ist das Geheimnis junggebliebener Menschen?

Sie leben das Leben jeden Tag aufs Neue. Ich glaube, das ist das Geheimnis. Leben, Lieben, Lachen! Dieses Gefühl, in Frieden mit sich selbst zu sein, denn dann kann ich auch anderen Frieden geben. Wenn ich das reflektiere mit dem Spruch von Albert Schweitzer „Jugend ist ein Geisteszustand“, dann sage ich, das stimmt. Auch wenn man schwere Zeiten durchlebt, persönlich oder auf gesellschaftlicher Ebene – sich dem trotzdem zu stellen und zu lernen, Ruhe zu bewahren, die Hoffnung nicht aufzugeben, das Leben anzupacken. Und das ist der Vorteil des Alters, das habe ich begriffen.