Phänomen Fremdscham: Wenn uns andere peinlich sind

Ein hoffnungsvoller Mann geht begleitet von einem Streichquartett im Restaurant vor seiner Angebeteten auf die Knie – und kassiert eine Abfuhr. Ein Nachwuchssänger krächzt sich vor laufenden TV-Kameras die Seele aus dem Leib, dabei ist er der Einzige, der von seinem Talent überzeugt ist. Wenn wir mitansehen müssen, wie Menschen mit Anlauf in ein riesiges Fettnäpfchen springen, sind wir peinlich berührt: Wir schämen uns fremd. Doch was hat es mit diesem Gefühl eigentlich auf sich?

Frau hält sich Hände vors Gesicht
Wenn sich andere blamieren, schämen wir uns für sie mit. Warum ist das so? Foto: iStock/kaisersosa67

Was ist Fremdscham?

Scham ist ein höchst menschliches und soziales Gefühl, da sind sich Evolutionsbiologen einig. Schon in der biblischen Geschichte von Adam und Eva ist das plötzliche Empfinden der Scham ein Schlüsselmoment. Laut Ansicht von Wissenschaftlern hat es eine warnende Funktion: Wir schämen uns, weil etwas anders gelaufen ist, als es die gesellschaftliche Norm ist. Doch wir müssen unangenehme Situationen nicht einmal selbst erleben – wir können uns auch “fremdschämen”. Seit 2009 steht das Wort sogar im Duden. Laut Definition bedeutet es “sich stellvertretend für andere, für deren als peinlich empfundenes Auftreten schämen”. In der englischsprachigen Wissenschaftsliteratur wird das Phänomen bereits seit den 1980er Jahren beschrieben. Man spricht von “vicarious embarrassment”, also “stellvertretender Peinlichkeit”, oder “empathic embarrassment”, der “empathischen Peinlichkeit”. Der Effekt zeigt sich auch, wenn wir Filme oder TV-Shows gucken, in denen sich Menschen blamieren. Wir müssen die Personen noch nicht einmal kennen, trotzdem können wir kaum hinsehen. Manchmal tut es sogar richtig weh, wir leiden mit anderen mit. Besonders kurios: Uns sind Dinge peinlich, die den Betroffenen selbst gar nicht zu stören scheinen.

Warum schämen wir uns fremd?

Professor Frieder Paulus und Dr. Sören Krach von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Lübeck haben mithilfe der Arbeitsgruppe “Social Neuroscience” eine Verhaltensstudie zur Erforschung der Fremdscham durchgeführt. 1.400 Probanden sollten anhand von Fragebögen 120 unterschiedliche Situationen bewerten und das Level der Fremdscham angeben. Jemand merkt nicht, dass sein Hosenstall die ganze Zeit offen steht, einem anderem platzt beim Bücken die Hose. Wie die Studienteilnehmer die Fauxpas einstufen, hängt stark von der Empathie des Einzelnen ab, so das Ergebnis. Es kommt darauf an, wie gut man sich in andere hineinversetzen kann und wie sehr man sich mit der anderen Person identifiziert. Frauen haben unterschiedlichen Studien zufolge übrigens ein höheres Empathieempfinden als Männer und schämen sich öfter für andere. Ob der Pechvogel selbst bemerkt, dass er sich gerade blamiert hat, spielt laut Paulus und Krach keine Rolle, heißt es in dem Fachjournal “Plos one”.

Was passiert, wenn wir uns fremdschämen?

Was genau in unserem Gehirn vor sich geht, wenn wir uns fremdschämen, wurde bei der Social-Neuroscience-Studie ebenfalls untersucht. Mithilfe eines Kernspintomographen wurden die Gehirnareale ausfindig gemacht, die in den entsprechenden peinlichen Situationen aktiviert werden. Das Ergebnis: Fremdschämen tut wirklich weh! Es werden dieselben Hirnbereiche angesprochen wie bei körperlichen Schmerzen.

Soziale Normen als Maßstab für Fremdscham

Neben Empathie spielt beim Fremdschämen auch das Verständnis für soziale Normen eine entscheidende Rolle. Nur wer einschätzen kann, welche Situation innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Rahmens als peinlich angesehen wird, schämt sich fremd. Menschen entwickeln dieses Verständnis normalerweise bereits im Kindesalter. Wie Paulus und Krach im Fachmagazin “Research in Developmental Disabilities” erklären, schämen sich Autisten seltener fremd, weil sie Probleme damit haben, Normverletzungen klar zu erkennen. Da gesellschaftliche Normen sich verändern, verändert sich auch der Maßstab dessen, was beschämend ist und was nicht. Musikstile, Modetrends – alles ist in einem steten Wandel. Fanden Sie beispielsweise Ihr Outfit aus Teenie-Zeiten einst cool und trendy, würden Sie sich 20 Jahre später niemals im selben Look auf die Straße trauen. Vielleicht würden Sie sogar jemanden belächeln, der sich heute so kleidet oder verhält wie Sie es einst getan haben.