Paris-Syndrom: Wenn die Erwartungen an die Stadt der Liebe enttäuscht werden
Von einer Reise war fast jede:r schon einmal enttäuscht – doch beim Paris-Syndrom, von dem meist Japaner:innen betroffen sind, geht es um mehr als nur Enttäuschung: Die psychische Störung sorgt bei Betroffenen für schwerwiegende Symptome.

Paris verbinden viele mit romantischen Heiratsanträgen vor dem Eifelturm und leckeren Croissants in Cafés. Die Realität sieht aber ganz anders aus – denn auch in Paris gibt es Dreck, Lärm und unfreundliche Menschen. Besonders Japaner:innen sind sich darüber aber nicht immer bewusst, wenn sie ihren Urlaub in der Stadt der Liebe planen. Diese Diskrepanz zwischen verklärter Vorstellung und Realität kann im sogenannten Paris-Syndrom enden.
Was ist das Paris-Syndrom?
Erstmals wurde das Paris-Syndrom 2004 von dem japanischen Psychiater Hiroaki Ota beschrieben. Bis heute ist die psychische Störung jedoch umstritten. Aus diesem Grund gibt es dafür, genauso wie beim Jerusalem-Syndrom, keine offiziell anerkannte Diagnose der Weltgesundheitsorganisation und gilt somit nicht als klinisch nachgewiesene Krankheit.
Hiroaki Ota bezeichnet das Paris-Syndrom als eine vorrübergehende psychische Störung, von der jährlich 20 bis 24 japanische Tourist:innen betroffen sind, wie die japanische Botschaft in Paris mitteilt. Einige Schätzungen belaufen sich auf 100 Fälle im Jahr. Japaner:innen aus der Mittelklasse träumen ihr Leben lang davon, ins alte Europa zu reisen. Paris ist dabei ein besonders beliebtes Reiseziel, weil sie romantische Sehnsüchte weckt.
Doch die Realität kann mit diesen Erwartungen nicht immer mithalten. Japanische Tourist:innen sind oft enttäuscht von Paris und können infolgedessen regelrechte Angstzustände und Halluzinationen entwickeln. Nach der Reise verfallen viele von ihnen in einen depressiven Zustand und erleiden das Paris-Syndrom.
Sind nur Japaner vom Paris-Syndrom betroffen?
Natürlich kann das Paris-Syndrom jeden treffen, der oder die allzu große Erwartungen setzt an die nächste Paris-Reise. Doch in Japan soll die Stadt der Liebe ganz besonders romantisiert und idealisiert werden. Viele japanische Mangas und TV-Serien spielen in Paris oder sind mit Paris verknüpft. Die Stadt steht dort für Kunst, Luxus und Eleganz. Deshalb sind Japaner:innen und nicht Menschen anderer asiatischer Länder betroffen.
Europäer:innen leiden nicht unter einem solchen Syndrom, da die französische Kultur bekannt ist bzw. nicht stark von anderen europäischen Kulturen abweicht. Paris ist zudem kein Ziel, welches in unendlicher Ferne liegt. Viele Europäer:innen waren schonmal dort und kennen die Realität.
Paris-Syndrom entsteht aus falscher Erwartungshaltung
Japaner:innen haben nur knapp 2,5 Wochen Urlaub im Jahr – eine Reise nach Europa muss daher gut geplant und wohlüberlegt sein. Ganz oben auf ihrer "Bucket-Liste" steht oftmals Paris, eine Stadt, die sie aufgrund von Darstellungen in Social Media, Filmen und Büchern romantisieren und idealisieren. Diese übertriebene Erwartungshaltung an ihren bevorstehenden Urlaub in der französischen Hauptstadt kann vor Ort bitter enttäuscht werden.
Diese Faktoren spielen bei der Entstehung des Paris-Syndroms eine Rolle:
Erscheinungsbild der Stadt:
Neben Lärm, Chaos und Schmutz, wie es in vielen Städten der Fall ist, gibt es in den Pariser Straßen auch Kleinkriminelle – ein Bild, das viele Tourist:innen so nicht von Paris kennen. Sie gehen oft davon aus, dass das Stadtbild geprägt ist von Menschen, die wie Models aussehen und teure französische Markenkleidung tragen.
Unterkunft: Auch die Hotelwahl kann viele Tourist:innen enttäuschen: Kleine Hotelzimmer, teilweise unfreundliches Personal und hohe Zimmerkosten, auf die sie teils lange gespart haben.
Kulturelle Unterschiede: Hinzu kommen die französischen (oder auch europäischen) Umgangsformen, mit denen Japaner:innen nicht vertraut sind. Pariser:innen erscheinen ihnen bisweilen als unhöflich und schroff, wenn sie lauthals diskutieren. In Japan hingegen ist es unüblich, in der Öffentlichtkeit seine Emotionen zu zeigen. Für sie gilt, stets das "Gesicht zu wahren".
Erschöpfung von der Reise: Japaner:innen müssen eine lange Flugreise (14 bis 20 Stunden) auf sich nehmen, um endlich in Paris anzukommen. Oftmals haben sie auch – aufgrund ihres kurzen Jahresurlaubs – einen straffen Zeitplan vor Ort, um möglichst viel sehen zu können. Der Jetlag, die andere Kultur und der Sightseeing-Stress tragen dazu dabei, dass sie sich erschöpft fühlen und bisweilen eine depressive Symptomatik entwickeln.
All diese Faktoren, die einer falschen Erwartungshaltung entspringen, führen letzlich zu einem Kulturschock und einer Enttäuschung, die sich als Paris-Syndrom zeigen kann.
Paris-Syndrom Symptome: So äußert sich die Störung
Das Paris-Syndrom ist durch mehrere psychischen Symptome gekennzeichnet:
Verfolgungswahn (die Annahme, dass der Betroffene von anderen Personen angefeindet oder aggressiv behandelt wird)
akute Wahnzustände
Psychosen nach dem Aufenthalt in Paris
Neben den psychischen Auswirkungen hat das Syndrom auch physische Auswirkungen wie Schwindel, Schwitzen oder Herzrasen.
Die Symptomatik ist jedoch von Fall zu Fall unterschiedlich. Medienberichten zufolge gab es 2006 den Fall, dass zwei Frauen der festen Überzeugung waren, ihre Unterkunft wäre verwanzt , weil gegen sie eine Verschwörung liefen würde. In einem anderen Bericht ist von einem Mann die Rede, der glaubte, der ehemalige König von Frankreich, Ludwig der XIV. zu sein.
Neben Paris-Syndrom: Diese Städte-Syndrome gibt es noch
Andere alt-europäische Städte fallen ebenfalls unter das Paris-Syndrom, jedoch nur in Einzelfällen. Deswegen haben sie keinen spezifischen Namen für damit verbundene Störungen. Doch es gibt noch viele weitere Städte, die nach einem Syndrom benannt sind. Ähnliche Merkmale, wie das Paris-Syndrom haben zum Beispiel das Jerusalem und das Stendhal-Syndrom.
Jerusalem-Syndrom: Betroffene rufen in den Straßen biblische Verse und halten sich für religiöse Personen.
Stendhal-Syndrom: Touristen, die in Florenz mit einer Reizüberflutung zu kämpfen haben. Der Entdecker dieser Störung ist Namensgeber.
Venedig-Syndrom: Betroffene (meist Deutsche) wählen Venedig als Sterbeort und begehen dort Selbstmord.
Stockholm-Syndrom: Opfer einer Geiselnahme bauen eine positive Bindung zu ihrem Entführer auf.
London-Syndrom: Der Geiselnehmer ist genervt von der Geisel und bringt diese um.
Paris-Syndrom behandeln: So wird Betroffenen geholfen
Für ca. 25 Prozent der Betroffenen ist ein Klinik-Aufenthalt notwendig, um eine Besserung der Psyche zu erzielen. Auch eine verfrühte Heimreise unter medizinischer Aufsicht war in der Vergangenheit in wenigen Fällen notwendig. In den meisten Fällen erholen sich Menschen mit dem Paris-Syndrom jedoch mit der Zeit wieder. Ihnen hilft es vor allem, sich viel auszuruhen.
Paris-Syndrom vorbeugen: Tipps gegen zu hohe Urlaubserwartungen
Damit es nicht zum psychischen Leiden durch einen Paris-Besuch kommt, können sich Japaner:innen und andere Tourist:innen vorbereiten. Diese Tipps helfen aber auch allen anderen Menschen, die zu hohe Erwartungen an ihren Urlaub setzen:
Sprechen Sie mit Personen, die schon einmal dort waren.
Lesen Sie Reiseberichte.
Schauen Sie sich im Internet Vlogs aus der Stadt an.
Machen Sie sich mit den kulturellen Gepflogenheiten des Urlaubsorts vertraut.
Planen Sie während Ihres Trips ausreichend Pausen und Puffer ein, um sich nicht zu sehr zu stressen.
Akzeptieren Sie, dass keine Reise und kein Reiseziel perfekt sind.
Fragen Sie sich auch, warum sie an diesen Ort verreisen wollen: Nur um Fotos zu machen oder wirklich neue Eindrücke zu sammeln und Dinge zu erleben? Fotos sind für die Erinnerung zwar schön, aber gut ist es auch, wenn Sie die Momente im Urlaub auch mal achtsam genießen können.
Das Paris-Syndrom ist und bleibt einzigartig, denn keine andere Stadt wird so sehr romantisiert, wie die Stadt der Liebe.
Text: Helen Gräfer