"Niemand muss mit chronischen Schmerzen leben!"

Aus der Serie: Chronische Schmerzen

Muss ich mich mit Migräne abfinden? Was hilft bei Rückenschmerzen? Wie sinnvoll ist eine dauerhafte Schmerztherapie mit Medikamenten? Deutschlands führender Schmerz-Experte, Professor Hartmut Göbel, beantwortet die wichtigsten Fragen zu chronischen Schmerzen.

Ich bin eigentlich ganz gesund, aber alle paar Monate leide ich an migräneartigen Kopfschmerzen. Muss ich damit leben?

Man sollte Schmerzen grundsätzlich nie hinnehmen und ihnen immer nachgehen. Schmerzen zeigen an, dass etwas geändert werden muss. Man darf sich mit Schmerzen nicht einfach abfinden.

Jemand, der sich gesund fühlt, ein zufriedenes Leben lebt und kaum Stress hat – woher bekommt der Migräne-Attacken?

Schmerz-Experte Prof. Hartmut Göbel von der Schmerzklink Kiel im Interview chronische Schmerzen
Schmerz-Experte Prof. Dr. Göbel: „Man sollte Schmerzen grundsätzlich nie hinnehmen und ihnen immer nachgehen. Schmerzen zeigen an, dass etwas geändert werden muss. Man darf sich mit Schmerzen nicht einfach abfinden.“ Foto: privat

Schmerzen entstehen nicht allein durch Reize von außen. Die angeborene Reizempfindlichkeit und die Reizverarbeitung sind die wesentliche Grundlage für immer wieder neu auftretende Attacken.

Das heißt die Erbanlagen entscheiden darüber, wie schmerzempfindlich ich bin?

Der Körper regelt die aktuelle Schmerzempfindlichkeit. Die Erbanlagen sind für die Steuerung mitverantwortlich. Diese kann variieren und verstellt sein, ähnlich wie die Sehschärfe oder der Blutdruck. Das Gehirn wird in der Folge zu stark aktiviert. Elektrische und biochemische Vorgänge im Körper entgleisen – die Schmerzen entstehen.

Zu was für einer Therapie raten Sie bei meiner Migräne?

Die allgemeine Vorbeugung sollte zunächst darauf abzielen, einen regelmäßigen Tagesablauf zu planen. Denn was viele nicht wissen, ist, dass ein unregelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus sowie eine unregelmäßige Einnahme von Mahlzeiten als wichtigste Migräneauslöser gelten. Bei häufigen Attacken empfehle ich verschreibungspflichtige Wirkstoffe als Prophylaxe. Zum Beispiel Metoprololol, Flunarizin oder Valproinat. Sie müssen vorbeugend regelmäßig eingenommen werden, um die Attacken zu reduzieren.

Sie sagen, man soll Schmerzen grundsätzlich immer beachten und behandeln. Gilt das auch für jemanden, der ganz selten leichte Beschwerden hat?

Ja, Schmerzen sollten immer beachtet, und ihrer Ursache sollte nachgegangen werden. Selbst bei leichten und nur selten auftretenden Beschwerden ist die Einnahme des richtigen Medikaments sinnvoll. Voraussetzung ist allerdings, dass die Schmerz-Ursache zuvor geklärt wurde. Erster Ansprechpartner ist der Hausarzt. Falls hier die Ursache nicht geklärt werden kann, sollte ein Spezialist hinzugezogen werden.

Das richtige Medikament zu finden, ist nicht immer einfach. Was raten Sie zum Beispiel einem Patienten, der seit Jahren an schweren Rheuma-Schüben leidet, bei dem Schmerzmittel aber nicht mehr wirken?

Entzündlich-rheumatische Erkrankungen können sehr unterschiedlich verlaufen und verschiedene Ursachen haben. Die Diagnostik und die Behandlung sollten daher durch erfahrene Spezialisten erfolgen. Wenn herkömmliche Basismedikamente nicht ausreichen, kann heute mit Wirkstoffen wie Etanercept, Adalizumab und Infliximab - sogenannten TNF-Blockern, die in die körpereigene Abwehr eingreifen - eine weitere Wirkung erreicht werden. Die Schübe können gemildert und verzögert werden und die Betroffenen ein fast normales Leben führen. Nur Schmerzmittel zu geben, ist nicht mehr zeitgemäß.

Apropos zeitgemäß, bei chronischen Schmerzen werden neuerdings auch Antidepressiva eingesetzt.

Niedrig dosiert, sind Antidepressiva als Medikament in der Schmerzmedizin mittlerweile fest etabliert, das stimmt. Sie unterstützen die körpereigene Schmerzabwehr.

Welche Vorteile bringen diese Mittel?

Sie stabilisieren die Schmerzempfindlichkeit, können die Stimmung und den Schlaf verbessern. Sie machen nicht abhängig und wirken auch nach längerer Einnahme noch zuverlässig. Weiterer Vorteil: Die Dosierung von Schmerzmitteln kann deutlich reduziert werden und die Verträglichkeit verbessert sich.

Gibt es keine Risiken?

Individuelle Risiken hängen mit möglichen Vorerkrankungen der Patienten zusammen. Leiden sie zum Beispiel an Erregungsleitungsstörungen des Herzens oder an Epilepsie, können diese Medikamente ungeeignet sein.

Als Direktor der Schmerzklinik Kiel sehen Sie täglich viele Schmerzpatienten aus ganz Deutschland. Welche Beschwerden treten besonders häufig auf?

Im Vordergrund stehen Migräne, Kopf-, Rücken- und Nervenschmerzen.

Ein Patient, der seit einigen Wochen starke Rückenschmerzen hat, bei dem kein Medikament hilft - was raten Sie dem? Woher kommen seine Schmerzen?

Zuerst müssen mittels sorgfältiger körperlicher Untersuchung spezifische und unspezifische Rückenschmerzen unterschieden und aufgedeckt werden. Bei neurologischen Symptomen können zum Beispiel gezielt mit einer Magnetresonanz-Tomografie, kurz MRT, Ursachen für die Erkrankung erfasst oder ausgeschlossen werden. Mit über 85 Prozent am häufigsten sind jedoch sogenannte unspezifische Rückenschmerzen. Oft führt ein anhaltender Bewegungsmangel oder das Verharren in einseitigen Körperhaltungen dazu, dass Rückenmuskeln geschwächt, andere hingegen überbeansprucht werden. So entsteht ein Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Muskelgruppen, das schmerzhafte Verspannungen und Fehlhaltungen begünstigt.

Bewegungsmangel und Fehlhaltungen sind Schuld an chronischen Schmerzen?

Sie können ein wesentlicher Grund dafür sein. Rückenschmerzen werden oftmals chronisch, weil sich die körpereigene Schmerzabwehr erschöpft und dann permanent Schmerzsignale ungefiltert im Gehirn eintreffen - auch wenn es gar keinen unmittelbaren Auslöser dafür gibt. Körperliche und geistige Aktivität sind übrigens die besten Vorbeugemaßnahmen dagegen.

Wie sieht die Behandlung genau aus?

Medikamente allein können Rückenschmerzen langfristig nicht beseitigen. Der Schlüssel zur Schmerzvorbeugung heißt, so banal es klingt, Aktivität und Bewegung. Ein Physiotherapeut kann einem Patienten genau zeigen, welche Übungen bei welchen Beschwerden helfen. Aber auch im Alltag lässt sich die körperliche Aktivität oft noch steigern, etwa durch tägliche Spaziergänge, das Benutzen von Treppen statt des Aufzugs oder Fahrten mit dem Fahrrad zum Bäcker. Es gilt der biblische Satz, leicht abgewandelt: Steh auf und geh!

Manche Rückenschmerzen kann man auch auf eindeutige Ursachen zurückführen. Beispiel Bandscheibenvorfall - hilft dort bei starken Schmerzen nur die OP?

Schmerzen bei einer Nervenwurzelirritation durch einen Bandscheibenvorfall lassen sich in den meisten Fällen ohne Operation lösen. Schmerzmittel für wenige Tage, körperliche Aktivierung und Physiotherapie führen meist zur Beschwerdefreiheit. Treten jedoch schwere neurologische Begleitstörungen auf, wie Verlust der Blasenkontrolle oder Lähmungserscheinungen, muss eine Operation erwogen werden.

Zu den häufigsten Schmerzproblemen zählen in Deutschland laut einer neuen Umfrage Gelenkprobleme – speziell Knie-Beschwerden. Wie ernst muss man so etwas nehmen?

Wir Menschen werden durch gesunde Lebensweise und die moderne Medizin immer älter. Gelenkverschleiß nimmt jedoch mit dem Alter zu, gerade bei Frauen. Typisch ist der Knieschmerz unter Belastung. Er ist häufig eine Folge der Überbeanspruchung, die nach einiger Zeit der Schonung und Ruhigstellung wieder abklingt.

Ruhe als Therapie?

Physiotherapeutische Trainingsprogramme können den Schmerz zusätzlich reduzieren. Maßnahmen wie Wärme, Kälte und Strombehandlungen helfen ebenfalls. Entzündungshemmende Schmerzmittel reduzieren Schwellungen, Schmerzen und Endzündungen. Lokale Injektionen können direkt helfen. Ein Kniegelenkersatz kann nachhaltig Linderung erzielen.

Wie oft kommen Menschen zu Ihnen, die sagen: Ich habe Schmerzen, aber kein Arzt findet etwas?

Oft. Chronische Schmerzen entstehen häufig, weil eine Ursache nicht aufgedeckt werden konnte. Ihre Grundlagen können nicht mit den üblichen Untersuchungsverfahren erfasst werden. Sie entstehen häufig nicht in den schmerzhaften Organen selbst, sondern im Nervensystem, das deren Funktionen steuert und reguliert.

Wie ist es zum Beispiel bei Zahnschmerzen, wenn der Arzt nichts findet?

Ein typisches Beispiel ist die sogenannte Trigeminusneuralgie. Hier können schon viele Jahre vor Ausbruch der Erkrankung die Zähne schmerzen, die vom Nerv versorgt werden. Zahnbehandlungen können dies nicht ändern. Der Schmerz entsteht in diesem Fall nicht in den Zähnen, sondern im Nerv, an einer ganz anderen Stelle als dort, wo er verspürt wird.

Trotzdem suchen die Menschen in ihrer Unwissenheit den Zahnarzt auf.

Das liegt natürlich nahe. Aufgrund des Schmerzbildes kann aber nur der Neurologe die richtige Diagnose stellen. Mit der gezielten Behandlung können die Schmerzen in wenigen Stunden, trotz jahrelangem Auftreten ihren Schrecken verlieren. 

Stressbedingte Beschwerden kommen relativ häufig vor. Sie sind zwar unangenehm, können aber nicht wirklich gefährlich werden, oder?

Das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Stressbedingte Magenschmerzen zum Beispiel können durch eine Nichtbeachtung oder eine Nichtbehandlung ein Magengeschwür oder sogar eine tödliche Magenblutung hervorrufen. Stress kann schwerwiegende Schäden im Herz-Kreislaufsystem bedingen, wie zum Beispiel Bluthochdruck oder Infarkte. Besonders das Nervensystem kann dauerhaft beschädigt werden. Die Folgen reichen von Depressionen, Schlafstörungen bis hin zu chronischen Schmerzen.

Wie kann man verhindern, dass es so weit kommt?

Am wichtigsten ist die aktive Stressvermeidung. Hier stehen Tagesplanung, Organisation und die Überprüfung der eigenen Ansprüche und Ziele im Mittelpunkt. Aktive Stressbewältigung schließt zudem Entspannungsverfahren, Wahrnehmungslenkung, Teambildung, körperliche Betätigung und Sport mit ein.

Im Interview: Prof. Dr.med. Dipl. Psych. Hartmut Göbel
Facharzt für Neurologie, Spezielle Schmerztherapie, Psychotherapie an der Schmerzklinik Kiel. Behandlungsschwerpunkt: chronische neurologische Schmerzerkrankungen, Migräne- und Kopfschmerzerkrankungen, Schmerzerkrankungen der Muskulatur und des Bewegungsapparates, Schmerzen bei Erkrankungen des peripheren und zentralen Nervensystems sowie Schmerzen bei Unfallschäden und bei Nervenverletzungen.