"Mit Sport-Bulimie zerstörte ich meinen Körper"
Sie stopfte Pralinen, Schokolade, Kekse in sich hinein – oft 4 000 Kalorien in nur einer halben Stunde. Dann fuhr sie 160 Kilometer auf dem Rad, bis sie fast zusammenbrach. Aber lange Zeit ahnte niemand etwas von ihrer Krankheit und ihrer Verzweiflung.
Anita Adam* (32) hat eine besonders heimtückische Form der Ess-Störung. Die Muskeln zittern. Mit letzter Kraft tritt Anita in die Pedale. Seit acht Stunden fährt sie auf ihrem Rennrad, hat nur drei kurze Pausen gemacht. 160 km hat sie geschafft.
Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht: Anita ist keine Leistungssportlerin, die einen harten Trainingsplan erfüllt. Sie will abnehmen. Sich jedes Gramm abtrainieren. Dabei ist sie zu dieser Zeit schon sehr dünn: Bei einer Größe von 1,72 m wiegt sie 56 Kilo. 12 Monate ist das her.
Der Grund, warum Anita Adam, Schneiderin aus Biehlen (Sachsen), sich damals so quält: Sie hat eine Ess-Störung, eine Form der Bulimie: Anita ist Sport-Bulimikerin. Fast täglich hat sie Ess-Anfälle. Dann stopft sie wahllos Schokolade, Kuchen, Kekse in sich hinein. Andere Bulimiker müssen sich nach solchen Anfällen zwanghaft übergeben. Anita aber treibt stattdessen exzessiv Sport, um die Kalorien wieder loszuwerden – mit geradezu verzweifelter Härte, bis zur Erschöpfung.
Das Essproblem sieht man ihr lange nicht an. Der Grund: Durch den Sport hat sie viel Muskelmasse aufgebaut, wirkt nicht ausgezehrt. Auch zeigt sich ihr extremes Abnehmen nicht so deutlich auf der Waage, weil Muskeln schwerer sind als Fett. Therapeuten wissen: Das Leid von Sport-Bulimikerinnen bleibt deshalb oft lange verborgen. In Familie und Freundeskreis werden manche sogar wegen ihrer Energie bewundert, keiner ahnt die Verzweiflung hinter der aktiven, sportlichen Fassade.
Anita ist total eifersüchtig auf dünne Frauen: Der Anfang der Sport-Bulimie
Den Wunsch, sehr schlank zu sein, hat Anita zuerst als Teenager. "Die dünnen Beine der Models, z.B. von Claudia Schiffer, waren mein Vorbild." Damals wiegt sie 75 Kilo. Anita will abnehmen. Sie zählt Kalorien, beginnt, Sport zu treiben, fährt Rad, geht dreimal pro Woche joggen.
Aber Anita nimmt damals kaum ab. Der Grund: Sie isst täglich eine 100-Gramm-Tafel Schokolade: 550 Kalorien. Und darauf will sie nicht verzichten. Sie erklärt: "Ich fühlte mich gut, wenn ich Schokolade gegessen hatte." Sie treibt Sport, um die Extra-Kalorien abzutrainieren. Ist das der Anfang der Sport-Bulimie?
Da ist sie noch eine fröhliche junge Frau von Anfang 20. Sie hat einen festen Freund, Jochen, Fernmeldemonteur in Berlin. Wegen der Entfernung Berlin/Sachsen führen sie eine Wochenend-Beziehung. Anita: "Wir waren trotzdem total happy." Sieben Jahre lang. Dann zieht Jochen zu ihr. "Bald gab es Streit wegen jeder Kleinigkeit. Ich fühle mich eingeengt." Was sie besonders belastet: "Wenn Jochen eine andere Frau nur anschaute, dachte ich sofort: Er findet sie hübscher als mich. Weil sie dünner ist." Anita weiß heute: "Diese Ängste waren wohl auch schon erste Anzeichen."
Sie bekommt Depressionen. Und die, so sagen Experten, sind oft Auslöser einer Ess-Störung. Die Depressionen werden bei Anita schnell so stark, dass sie sich in einer Klinik behandeln lassen muss. Von den Ärzten erfährt sie: "Ich habe mich von Jochen viel zu abhängig gemacht, dachte, ich muss ihm vor allem äußerlich gefallen."
"Nur wenn ich dünn bin, bin ich attraktiv'"
Nach der Entlassung trennt Anita sich von Jochen. Und findet ihr Leben erst mal auch wieder leichter. Sie hat zwar immer noch den Wunsch abzunehmen. Sie macht auch wieder regelmäßig Sport, radelt, joggt. "Aber nie im Übermaß. Ich aß weiter meine Tafel Schokolade pro Tag und war ganz zufrieden mit mir."
Das dauert an, so lange Anita Single ist. Pfingsten 2002 aber lernt sie Florian, einen Freund ihres Bruders, kennen. Anita: "Mit ihm war ich superglücklich, brauchte plötzlich noch nicht mal mehr meine tägliche Tafel Schokolade!" Die lässt sie weg – und ist überrascht: Nach vier Wochen hat sie fünf Kilo abgenommen!
Florian sagt: "Du siehst klasse aus!" Ein Kompliment, das Folgen hat. Es bestätigt Anita in dem Glauben: Nur wenn ich dünn bin, bin ich attraktiv für meinen Freund. Schnell bekommt sie das Gefühl, sich Florians Liebe erkämpfen zu müssen: "Er war sechs Jahre jünger, kam bei anderen Frauen gut an."
Die Sportbulimikerin verliert schnell Gewicht
Damals hat Anita gerade ihren 30. Geburtstag gefeiert. "Diese Zahl verstärkte bei mir die Angst, Florian an eine Jüngere zu verlieren."
Immer häufiger denkt sie ans Abnehmen, fährt mehr Rad. "Strecken von 60 Kilometern am Wochenende waren bald normal." Die Folge: Anita nimmt rapide ab, Ende August 2002 wiegt sie 60 Kilo. Ihre Eltern erschrecken: "Du bist viel zu dünn!" Anita: "Durch den raschen Gewichtsverlust war mein Haar stumpf und strohig, die Hände eiskalt, die Nägel blau und brüchig."
Anita kann trotzdem nicht mehr aufhören, sie braucht Hilfe, das spürt sie – aber sie erwartet sie von dem Menschen, der sie ihr nicht geben kann – von Florian. "Er war noch viel zu unreif, er merkte gar nicht, wie schlecht es mir ging. Er wollte bloß Spaß haben." Sie fühlt sich allein gelassen, es kommt zur Trennung. "Ich suchte Trost – und fand ihn im Essen."
Erst isst sie nur gesunde Sachen, z.B. Obst oder Salat mit Dressing. "Aber auch das schon exzessiv! Über viele Wochen aß ich abends z.B. ein 2,5-Kilo-Netz Apfelsinen auf. Ich konnte nicht eher vom Tisch aufstehen, bis das Netz leer war." Von der Fruchtsäure bekommt sie so starke Bauchschmerzen, dass sie nicht schlafen kann. Stunden, in denen sie sich schwört: "Morgen werde ich nicht so viel essen."
Den Vorsatz aber kann sie nicht halten. Inzwischen isst sie nicht mehr nur, wenn sie Hunger hat. Jetzt "gönnt" sie sich zusätzlich große Portionen Schokolade, Pralinen, Kekse, manchmal sogar Nutella pur vom Löffel. "Das waren schnell 4 000 Kalorien in einer halben Stunde!"
Befriedigung findet sie darin nicht. Im Gegenteil. "Danach fühlte ich mich schuldig, weil ich mich wieder einmal nicht beherrschen konnte." Nach einer Fress-Attacke rennt sie ins Bad, steckt den Finger in den Mund, würgt. "Aber übergeben konnte ich mich nicht."
Sport als einziger Ausweg für die Bulimiekranke

Als einzige Möglichkeit, jetzt noch an Gewicht zu verlieren, fällt ihr ein: Ich muss noch mehr Sport machen! Sie steigert ihr Pensum auf das Niveau eines Leistungssportlers, radelt jeden Tag nach der Arbeit drei Stunden.
Es sind quälende Stunden auf dem Rad. Anita fährt bei jedem Wetter, sogar im Dunkeln. Sie bringt sich damit oft an den Rand der totalen Erschöpfung. "Aber der Ekel vor meinem Körper, den ich bei inzwischen unter 58 Kilo immer noch zu fett fand, und die Angst vor der Waage waren größer als meine Müdigkeit." Und wie schafft sie es noch, ihren Job zu machen? "Ich habe häufiger Pausen eingelegt, wenn mir wieder einmal schwindelig wurde."
Bald wiegt Anita nur noch 54 Kilo – die Periode bleibt aus. Im Juni 2003 ist der absolute Tiefpunkt erreicht: Jetzt schafft sie es nicht mal mehr, zwei Etagen Treppen zu steigen. Ihr wird schwindelig und schwarz vor Augen. Endlich sucht sich Anita Hilfe: Im November bekommt sie einen Therapie-Platz in der Klinik Schwedenstein (bei Dresden), die auf Essprobleme spezialisiert ist. Hier hat Anita Einzel- und Gruppentherapie. "Endlich hatte ich das Gefühl, dass jemand meine Ängste versteht. In der Gruppe mit den anderen betroffenen Frauen lernte ich nicht nur, meine Schwächen zu sehen, ich entdeckte vor allem meine Stärken wieder."
Anita lernt, vernünftig zu essen, es gibt täglich fünf Mahlzeiten unter Aufsicht. Sie lernt, ein Ess-Tagebuch zu führen, das ein Arzt regelmäßig mit ihr bespricht. Während des Klinikaufenthalts ist Sport für sie streng verboten. Höchstens eine Stunde am Tag darf sie spazieren gehen. Anfangs macht Anita heimlich nachts Liegestütze. Aber beim wöchentlichen Wiegen fällt auf – sie hat vier Kilo abgenommen. Ihr Arzt droht, sie zu entlassen. Anita: "Ein Schock, denn ich begriff: Wenn ich wieder gesund werden will, muss ich die Therapie durchhalten. Allein kann ich die Sucht nicht besiegen."
Um die Sport-Bulimie zu besiegen, isst Anita heute streng nach Plan
Für die Zeit nach der Klinik erarbeitet sie mit Ernährungsexperten einen persönlichen Speiseplan: Viel frisches Obst und Gemüse – eingeteilt in normal große Portionen. Nach zwölf Wochen darf Anita nach Hause. Sie wiegt 60 Kilo – noch immer zu wenig. "Die letzten fünf Kilo will ich allein schaffen."
Heute muss Anita das Gelernte aus der Klinik im Alltag umsetzen. Jeder Tag bedeutet eine neue Herausforderung für sie. Auch wenn es oft schwer ist: Anita ist optimistisch. Sie weiß, dass sie ihre Sport-Bulimie in den Griff kriegen kann. Und das will sie unbedingt, denn sie freut sich auf ein normales, zufriedenes Leben: "Ich wünsche mir einen lieben Partner und eine eigene Familie."