Leben mit der Lernschwäche Dyskalkulie

Dyskalkulie ist eine anerkannte Lernschwäche
Dyskalkulie ist eine anerkannte Teilleistungsstörung nach ICD-10. Dennoch müssen die Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie selbst getragen werden Foto: Fotolia

Bin ich dumm, Mami? Nein, du hast nur Dyskalkulie. Es hat lange gedauert, bis Mutter und Tochter das begriffen. Leben mit der Lernschwäche – Tina-Autorin Kristina Kroemer (50) berichtet.

Gerade eben hatten wir wieder so ein Erlebnis: Meine 14-jährige Tochter Anna fragte mich so ganz nebenbei: "Mami, wie lange brauche ich mit fünf Euro Taschengeld pro Woche, um 60 Euro zusammenzukriegen?" Sie schaute mich fragend an: "30 ...?" Und rechnete: "Also, vier mal zehn ist 40, dann fehlen noch 20, ähm ..." Dann lächelte sie treuherzig: "Kann ich nicht rechnen." Anna kann tatsächlich nicht rechnen. Meine Tochter hat Dyskalkulie, zu Deutsch Rechenschwäche.

 

Aber das weiß ich noch gar nicht so lange. Über einen großen Zeitraum haben wir uns nur immer wieder gewundert, warum sie solche Probleme mit Mathematik hat. Bereits in der Grundschule fiel auf, dass Anna eins und eins nur schlecht zusammenzählen konnte. Ein Dyskalkulie-Test wurde gemacht, aber das Ergebnis war damals negativ. "Üben, üben, üben!" verordnete der Mathelehrer. Das taten wir: Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren ... Unsere Tage waren bestimmt von diesem Drama, denn ich konnte nicht begreifen, dass sie es nicht begreifen konnte. Üben bedeutete auch Einkaufen: Für fünf Euro sollte sie Milch und Butter besorgen. Ihre Reaktion: "Das reicht nicht, gib mir lieber 50 Cent!" Und als ich sie völlig verdattert anschaute, fügte sie hinzu: "50 ist doch mehr als fünf!"

Lerntherapie als Ausweg aus der Rechenschwäche?

Stress, Streit, schlechte Stimmung, Druck, daraus bestand die gesamte Grundschulzeit. Dass sie in Deutsch eine der Besten war, ihre unglaubliche Schnelligkeit im Begreifen von Texten, ihre Freude am Lesen - all das spielte in ihrem Selbstverständnis keine Rolle. Anna glaubte: "Ich kann das nicht, ich bin dumm." Auf dem Gymnasium kam sie dann auch überhaupt nicht mit. Mathe: Sechs. Auch für die Lehrer, für die Mitschüler war Anna dumm. "Die hat hier nichts zu suchen", sagte der Klassenlehrer. Ein weiterer Test im Hamburger Institut für Mathematisches Lernen ergab endlich glasklar: Anna hat Dyskalkulie. "Das kriegen wir hin", meinte die Expertin.

„Was soll das sein, Dyskalkulie?“ – Der Mathelehrer reagierte verständnislos

Ab sofort ging meine Tochter jede Woche eine Stunde dorthin. Zweieinhalb Jahre, für 250 Euro im Monat. Aber in Mathe blieb sie schlecht: "Mami, ich kann nichts dafür. Mein Kopf ist leer, wenn ich die Aufgaben sehe", sagte sie völlig verzweifelt, wenn sie wieder eine Sechs nach Hause brachte. Ich tröstete sie: "In den Sprachen bist du doch super!" Inzwischen war sie elf. Sie sah englische Filme im Original, las pro Woche drei bis vier Bücher, schrieb Kurzgeschichten. Als ich dem Mathelehrer sagte, dass meine Tochter Dyskalkulie hat, fragte er völlig verständnislos: "Was soll das denn sein?" Er hatte das Wort noch nie gehört.

Die Mutter ist verzweifelt. Nachhilfe, Mathe-Therapie: Nichts hat geholfen

Dyskalkulie-Therapie: Die grundlegenden mathematischen Fähigkeiten, um trotz Rechenschwäche im Leben zurechtzukommen, können erlernt werden Foto: Fotolia

In der siebten Klasse wechselte Anna auf die Stadtteilschule. Hier kennt man das Wort, aber das hilft ihr auch nicht. Denn Dyskalkulie ist zwar eine anerkannte Teilleistungsstörung nach ICD-10, dem weltweiten Klassifikationsschema für Störungen aller Art, aber das wird in der Schule nicht beachtet. Ich muss jetzt die Lehrer überreden, das zu berücksichtigen. 2014 wird sie hoffentlich ihren Hauptschulabschluss machen. Sie wird wohl eine Fünf oder Sechs in Mathe bekommen, kann das aber mit den anderen Fächern ausgleichen. Sie wird vielleicht auch die Mittlere Reife schaffen. Das wäre wenig für ihre Intelligenz, aber viel angesichts ihrer Rechenschwäche. Das Abitur haben wir uns abgeschminkt - sie glaubt nicht mehr daran. Dass fünf Euro mehr sind als 50 Cent, weiß sie heute - aus Erfahrung.

Das sagt die Expertin: "Normale Nachhilfe hilft dem Kind nicht weiter"

Im Interview: Annette Höinghaus, Geschäftsführerin des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie, Bonn.

Was können Eltern für ihre Kinder tun?

Annette Höinghaus: Das Wichtigste: nicht streiten, keine Schuldzuweisungen. Falls das Kind auffällig schlecht im Rechnen ist, sollten die Eltern eine Diagnostik beim Kinder- und Jugendpsychiater oder in sozialpädiatrischen Zentren machen lassen.

Sollte man Nachhilfe organisieren?

Die übliche Mathe-Nachhilfe von einem Studenten oder auch einer Mathe-Pädagogin hilft nicht. Denn die Gedankengänge eines Dyskalkulikers sind für einen normal mathebegabten Menschen nicht nachvollziehbar. Da helfen nur gut ausgebildete Dyskalkulie-Therapeuten.

Wo kann ich diese Therapeuten finden?

Unser Verband hat eine Liste zusammengestellt. Unter www.bvl-legasthenie.de sind Dyskalkulie-Therapeuten aus ganz Deutschland zu finden.

Muss ich die Kosten dafür selbst tragen?

Leider ja. Nur in seltenen Fällen übernimmt das Jugendamt die Kosten.

Ist Dyskalkulie therapierbar?

Ein Dyskalkuliker wird niemals Mathe studieren. Aber die grundlegenden mathematischen Fähigkeiten, um im Leben zurechtzukommen, können erlernt werden.