Kleinwüchsigkeit: Marie und Jens sind ganz normal

Kleinwüchsigkeit ist eine Wachstumsstörung
Achondroplasie – von dieser Wachsstumsstörung sind die meisten der etwa 100.000 Kleinwüchsigen in Deutschland betroffen Foto: Shutterstock

Kleinwuchs ist eine Wachstumsstörung – die häufigste Form der Kleinwüchsigkeit ist die Achondroplasie. An ihr leiden auch Marie und Jens Bergmann – ihre Tochter ist normalgroß. Eine Familie über ihr Leben in einer manchmal viel zu großen Welt.

Wenn sie spazieren gehen, drehen sich viele Leute nach ihnen um. Sie spüren die Blicke genau: meistens neugierig, manchmal mitleidig, selten fassungslos. Für Marie und Jens Bergmann ist das ganz normal. Denn das Ehepaar ist kleinwüchsig. „Wir sind äußerlich eben etwas Besonderes", sagen beide, und in ihren Stimmen klingt Fröhlichkeit mit. „Aber wir führen ein ganz normales Leben …"

Achondroplasie: Häufigste Form der Kleinwüchsigkeit

Ein Leben in einer Welt, die ihnen manchmal riesig vorkommt. Achondroplasie – so heißt die Form der Kleinwüchsigkeit der beiden. „Normaler Rumpf, kurze Arme, kurze Beine, großer Kopf und ziemlich dicker Hintern – daran erkennt man uns", sagt Jens Bergmann und lacht. Achondroplasie – die Wachstumsstörung ist keine Krankheit, kein Gen-Defekt. Eher eine Laune der Natur. Die Eltern und Geschwister der Betroffenen sind „normal groß". Für Marie und Jens Bergmann ein Vorteil: „Auch unsere Freunde waren immer größer. Von ihnen und der Familie wurden wir ganz selbstverständlich behandelt. Das gibt Halt, Sicherheit."

Neugierige Blicke gehören dazu

Und ein Selbstbewusstsein, das sie sicher durch den Alltag bringt. „Wenn andere Menschen mich neugierig ansehen – das finde ich nicht schlimm", erklärt Jens Bergmann. Böse Sprüche wie „Zwerge" – das haben die beiden zuletzt in der Grundschule gehört: „Danach hatten wir Glück. Wir wurden nicht mehr gehänselt oder ausgeschlossen." Es ist eher Gedankenlosigkeit, die wehtut. „Wenn andere sich vordrängeln, weil sie denken, sie hätten ein Kind vor sich. Und: „Mir hat auch schon mal jemand über den Kopf gestreichelt", erinnert sich Jens Bergmann. „Furchtbar!" Aber das sind Ausnahmen beim Thema Kleinwüchsigkeit, betonen beide. „Wenn wir Hilfe brauchen, dann hat noch nie jemand nein gesagt."

Um Hilfe bitten – bei Kleinwüchsigkeit alltäglich

Um Hilfe bitten – das ist für sie fast alltäglich. „Manches steht im Supermarkt einfach zu hoch", erklärt Marie Bergmann. „Dann frage ich andere Frauen, ob sie mir mal die Nudeln reichen können. Im Einkaufswagen stelle ich alles nach vorn, damit ich es auch wieder herausholen kann. Manchmal rutschen trotzdem ein paar Sachen nach hinten. Dann versuche ich, sie zum Beispiel mit einer Porreestange zu angeln."

Jens Bergmann arbeitet beim Sozialamt. Es kommt vor, dass Antragssteller ihn durch seine Kleinwüchsigkeit erst mal nicht ernst nehmen. „Ich bleibe ganz ruhig und sachlich, dadurch kommen wir schnell klar", sagt er. Der Beamte sitzt in einem normalen Büro – bis auf den kleinen Hocker unter dem Schreibtisch: „Darauf stelle ich meine Füße, sonst schlafen sie ein."

Trotz Kleinwüchsigkeit normalgroßes Kind

Während der Familienvater arbeiten geht, ist Mutter Marie mit Lisa (2) zu Hause. Abends bin ich wirklich kaputt. Lisa ist jetzt über 80 Zentimeter groß, schon fast elf Kilo schwer." Marie wiegt nicht mal 50 Kilo, ist 47 Zentimeter größer als ihre Tochter. „Ich kann sie kaum noch hochheben – meine Arme sind einfach zu kurz, das schaffe ich nicht." Deshalb spielen beide auch so oft wie möglich auf dem Boden. „Welche Mutter kann schon mit ihrer Tochter auf dem Bobbycar durch die Wohnung düsen?" Der Wickeltisch ist nur 30 Zentimeter hoch, damit Marie Bergmann ihre Tochter fest im Griff hat. „Manchmal rollt sie sich auf die Seite und rennt davon", erzählt Mutter Marie. „Aber ich habe jahrelang Sport gemacht und kann trotz meiner kurzen Beine mithalten – noch."

Doch schon bald wird Lisa ihre Eltern überragen. Sie ist normal groß – obwohl die Chance dafür nur bei 25 Prozent stand. „Wir waren fast schon überrascht, weil wir fest mit einem kleinwüchsigen Kind gerechnet hatten", erinnert sich Jens Bergmann. „Aber dann haben wir uns riesig gefreut. Ist doch klar!"

Der Kinderwunsch wurde erfüllt

Dabei hatten die Eltern auch Zweifel. Würde alles gut gehen? „Unsere Familien sagten: ‚Ihr habt es doch so schon schwer genug – wollt ihr wirklich ein Baby?' Aber irgendwann dachten wir: , ja!'" Vorher hatte das Ehepaar spezielle Beratungsstellen aufgesucht, sich informiert: „Wir wussten, dass unser Kind möglicherweise nicht lebensfähig sein wird. Aber wir waren sicher: Wenn Gott will, dass wir ein Kind bekommen – dann werden wir eins kriegen", erklärt Marie Bergmann – der Kleinwüchsigkeit zum Trotz.

Trotzdem ließen sie in der 16. Schwangerschaftswoche eine Fruchtwasser-Untersuchung machen. „Sechs Wochen mussten wir auf die Ergebnisse warten. Das war die schlimmste Zeit", erinnert sich Jens Bergmann. Dann das Ergebnis: „Ihre Tochter ist gesund." „Von da an haben wir uns nur noch gefreut", erzählt seine Frau. „Ich hatte zum Schluss fast sechs Kilo zugenommen. Darüber werden andere Frauen lachen. Aber ich fühlte mich wie ein kleiner Wal, konnte nicht einmal mehr meine Schuhe allein zubinden." Dann kam Lisa auf die Welt. Fünfeinhalb Jahre nachdem Marie und Jens Bergmann sich kennen gelernt hatten.

Kennenlernen beim Treffen für Kleinwüchsige

Das war bei einem Treffen für Kleinwüchsige. Und bei ihr war es damals Liebe auf den ersten Blick: „Seine blauen Augen, seine offene Art – ich war fasziniert." Ehemann Jens brauchte etwas länger: „Ich verliebe mich ja nicht in jede Frau – nur weil sie auch klein ist. Aber in Marie verliebte ich mich jeden Tag ein wenig mehr…"

Seitdem meistern sie gemeinsam das Leben. „Manche Dinge sind wirklich anstrengend", gibt Marie Bergmann zu. „Kleidung kaufen zum Beispiel: Nur T-Shirts passen meist in Größe S oder M. Aber hübsche Sachen wie ein Kleid oder eine Bluse gibt es für mich nicht. Wir müssen alles ändern lassen." Das größte Problem: Schuhe. „Ich trage Größe 32. Und die sind meistens mit Elefanten und Blümchen verziert. Also brauche ich Spezialschuhe…"

Haus auf Kleinwüchsigkeit ausgerichtet

Nur in ihrem Haus ist das Leben in ihrer Größe perfekt. Die Treppenstufen sind flacher. Waschbecken und Toilette sind niedriger. Für alle Fälle stehen in vielen Zimmern kleine Hocker. Wegen Lisa haben die Eltern nicht alles umbauen lassen. „Wenn ich an die Zukunft denke – das macht mir schon ein wenig Angst", gesteht Marie Bergmann. „Aber wir sind sicher, dass wir Lisa gut erziehen. Sie wird auch noch auf uns hören, wenn sie längst auf Mama und Papa herabschauen kann."

Ein weiterer Punkt: die Hänseleien von anderen. „Kinder können grausam sein", sagt Jens Bergmann. „Klar wird sie es schwer haben. Aber darauf sind wir vorbereitet: Wenn Lisa in den Kindergarten kommt, nehme ich mir einen Tag frei. Stelle mich mit meiner Frau vor die Gruppe und erkläre, warum wir anders sind – ganz kindgerecht. Dann gibt es nicht mehr viel zu hänseln." Ein weiteres Kind will das Ehepaar nicht: „Wir haben so viel Glück gehabt", sagt Jens Bergmann. „Wir wollen das Schicksal nicht herausfordern. Unser Leben ist prima – genau so, wie es ist."