Kino-Hit Lucy: Nutzen wir nur 10 Prozent des Gehirns?

Kann man nur auf 10 Prozent seines Gehirns zugreifen?
Scarlett Johansson kann in ihrem neuen Film mithilfe einer geheimnisvollen Droge plötzlich auf 100 Prozent ihres Gehirns zugreifen – und erlangt so echte Superkräfte Foto: Corbis

Würden Sie auch gerne wie Scarlett Johansson im neuen Blockbuster „Lucy“ 100 Prozent Ihres Gehirns nutzen können? Erfahren Sie bei Praxisvita die neusten Geheimnisse aus der Hirnforschung und was Hollywood nicht verraten möchte.

In dem neuen Film von Regisseur Luc Besson hilft Lucy – eine von Scarlett Johansson gespielte, amerikanische Studentin im Auslandsjahr in Taipeh – ihrem zwielichten Freund bei einem Drogendeal. Sie lässt sich dazu überreden, in ihrem Körper eine neuartige Droge zu schmuggeln. Das Vorhaben geht schief, als das Drogenpaket in ihrem Bauch platzt. Doch anstatt an einer Überdosis zu sterben, entwickelt die blonde Studentin nach und nach mentale Superkräfte. Durch den Einfluss der geheimnisvollen Droge kann sie plötzlich auf 100 Prozent ihres Gehirns zugreifen – ganz anders als der Durchschnittsmensch, der angeblich nur einen kleinen Teil seiner Gehirnkapazitäten abrufen kann. Das behauptet zumindest der von Morgan Freeman gespielte Professor Norman. Auf die ihm gestellte Frage allerdings, was genau geschieht, wenn ein Mensch es schaffen sollte, wie Lucy im Film, seine Kapazitäten voll auszuschöpfen, antwortet er: „Ich habe keine Ahnung.“Aber stimmt es eigentlich, dass wir alle nur 10-Prozent-Menschen sind, und wie könnte ein 100-Prozenter wirklich aussehen? Praxisvita klärt für Sie auf.

Der Mythos ist alt

Wie Professor Norman die Einschränkungen der Zugriffsmöglichkeit auf das menschliche Gehirns als wissenschaftliche Tatsachen darstellt, ist in Wahrheit sehr heikel – und auch nichts Neues. Bereits im Jahr 1907 schrieb der US-amerikanische Psychologe William James darüber, dass der Mensch „nur einen kleinen Teil seiner psychischen und physischen Ressourcen ausschöpft.“ Allerdings sprach James damals von der „psychischen Funktionalität des Geistes“. Er betrachtete Körper und Geist als funktionale Einheit. Was er also meinte, war vor allem, dass die Psyche – als mentale Funktion des Menschen– nicht voll genutzt wird. Oder einfach gesagt: Der Mensch müsse noch lernen, das Werkzeug „Gehirn“ besser einzusetzen.

Rund 30 Jahre später zitierte ihn der US-amerikanische Publizist Lowell Thomas in seinem Vorwort zu Dale Carnegies Buch „Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflusst“ mit den Worten, dass „der durchschnittliche Mensch nur zehn Prozent seiner geistigen Fähigkeiten entwickelt habe“ und folglich nutzen könne. Ein Mythos war geboren.

Ein Mythos, der keiner sein will

Seit dieser Zeit, wird die Thematik – zuletzt im Hollywood-Streifen „Lucy“ – immer wieder aufgegriffen. Dabei wird die Behauptung einer nur eingeschränkten Verfügbarkeit der mentalen Möglichkeiten des Menschen hartnäckig als wissenschaftlicher Fakt beschrieben. Wie beharrlich sich der Mythos hält, zeigt eine Umfrage der George Washington University. Demnach glauben fast 70 Prozent der Bevölkerung an den „10-Prozent-Mythos“ – sogar jeder zweite Biologielehrer hält den vermeintlich wissenschaftlichen Hintergrund des Films „Lucy“ für wahr.

Was sagt die moderne Wissenschaft dazu?

Das Gehirn ist immer aktiv – im Ganzen. Insofern ‚arbeiten’ bei jedem Mensch auch ständig 100 Prozent seiner grauen Zellen. Die Annahme, dass ein gewisser Teil des Gehirns dem menschlichen Zugriff verschlossen bleibt, ist falsch. Wissenschaftler begründen diesen Fakt unter verschiedenen Gesichtspunkten:

Zum einen wäre da das Argument der sogenannten „contra-evolutionären“ Entwicklung. Ausgangslage ist hier die Tatsache, dass das menschliche Gehirn in den letzten zwei Millionen Jahren seine Größe mehr als verdreifacht hat und verbraucht heute rund 20 Prozent unserer Körperenergie. Würde wir nur zehn Prozent unseres Gehirns nutzen können, wäre das aus evolutionärer Sicht ein Rückschritt. Oder am Beispiel eines Computers erklärt: Gemessen an der hinzugefügten Hardware zur Leistungssteigerung, würde eine eingeschränkte Zugriffsmöglichkeit der Software keine Leistungssteigerung mit sich bringen. Die Hardware wäre somit sinnlos. Dies wiederum widerspricht dem evolutionären Prinzip: "Survival of the Fittest" oder in anderen Worten: Evolution ist nie ein Rückschritt.

„Use it or loose it“

Daran anschließend ergibt sich auch das nächste Argument. Forscher der Universität Harvard fanden 2012 heraus, dass Neuronen, die nicht mehr aktiv genutzt werden – aber sonst völlig gesund sind – von speziellen Immunzellen zerstört werden. Aus evolutionärer Sicht sollen Zellen, die verhältnismäßig viel Energie kosten, aber nicht gebraucht werden, keine Körperressourcen verschwenden. Das heißt: Wenn der Mensch, wie im Film Lucy behauptet, nur auf zehn Prozent seiner Gehirnzellen zugreifen könnte – die restlichen 90 Prozent also ungenutzt blieben –, würden die überflüssigen Zellen einfach verschwinden.

Messungen mit sogenannten Magnetresonanztomographen haben zudem gezeigt, dass das menschliche Gehirn selbst bei einfachen Tätigkeiten in seiner komplexen Struktur vollständig aktiviert ist. So – das zeigen Studien – sind z.B. beim Fernsehschauen auch die Gehirnbereiche aktiv, die der Mensch für Bewegung oder Reden benötigt, auch wenn er völlig still und stumm auf der Couch sitzt.

Training fürs Gehirn

Wir halten also fest, dass der Mensch immer zu 100 Prozent auf sein Gehirn zugreifen kann. Eine Steigerung des Zugriffs ist nicht möglich. Dennoch kann der Mensch durchaus seine geistige Leistungsfähigkeit verbessern.

Denn Gehirnzellen verfügen über so etwas wie Fitness – und die hängt davon ab, wie sehr sie genutzt werden. Ähnlich wie einen Muskel lässt sich das Gehirn trainieren. So nutzen beispielsweise alle Menschen die selben Muskeln, wenn sie einen 100-Meterlauf machen. Und doch laufen diese Strecke nicht alle Menschen gleich schnell. Eine geistige Tätigkeit – wie z.B. das Lernen in der Schule – ist Training fürs Gehirn und somit die einfachste Möglichkeit zur  Steigerung der geistigen Leistung.

Die Menge der Nervenzellen im Gehirn und der synaptischen Verbindungen der Zellen verändert sich ständig. Durch Krankheiten, wie beispielsweise Demenz, gehen Nervenzellen und Synapsen – jede Nervenzelle verfügt über rund 20.000 synaptische Verbindungen mit anderen Nervenzellen – verloren. Durch geistig stimulierende Tätigkeiten (wie z.B. das Lernen in der Schule oder Denkaufgaben) jedoch gewinnt das Gehirn auch noch im hohen Alter Neuronen dazu. Ebenso kann man durch geistige Stimulanz die sogenannten Gliazellen vermehren. Diese Zellen machen rund 90 Prozent der Gehirnmasse aus, dienen den Nervenzellen als Stützgerüst, gegenseitige elektrische Isolation und Transportmittel für Wasser und Hormone und sind insofern wichtig für die menschliche Konzentrationsfähigkeit.

Kann man sein Gehirn vergrößern?

Eine Studie der Universität von Pittsburgh zeigte außerdem, dass es auch andere Wege gibt, das Gehirn zu vergrößern. Wer einmal die Woche gebratenen oder gebackenen Fisch verzehrt, der kann auf eine Volumenvergrößerung seines Gehirns von vier Prozent hoffen. Zudem steigerte sich bei den Probanden auch die geistige Leistungsfähigkeit der vorhandenen Neuronen um ganze 14 Prozent. Das Beispiel zeigt, dass es keiner geheimnisvollen Drogen bedarf, um die Gehirnleistung anzuheben.

Weitere Möglichkeiten der natürlichen Verbesserung unserer mentalen Leistungsfähigkeit kann jeder von heute auf Morgen ausprobieren. Forscher bezeichnen – neben der geistigen Tätigkeit – ausreichend Schlaf (mindestens 7 Stunden pro Nacht), Wasser (mindestens zwei Liter am Tag) und Bewegung (mindestens 15 bis 20 Minuten täglich an der frischen Luft) als die besten Voraussetzungen für kognitive Leistungssteigerungen.

Ritalin oder Modafinil – also konzentrationssteigernde Präparate, die es im Gegensatz zu der geheimnisvollen Gehirn-Droge im Film „Lucy“ wirklich gibt – erhöhen zwar kurzzeitig die geistige Leistungsfähigkeit, führen aber auch zu Nebenwirkungen wie z.B. Nervosität, Schlaflosigkeit, Herzrasen und Blutdruckzunahme. Ärzte raten deswegen dringend davon ab, diese Medikamente ohne ärztliche Anweisung einzunehmen.