Kinder lernen unterschiedlich schnell

Eltern machen sich häufig Sorgen, ob sich ihr Kind weniger gut entwickelt als andere Kinder im gleichen Alter. Doch das ist häufig unnötig: Unsere Expertin Dr. med. Nadine McGowan weiß, warum sich Eltern von den Erfolgen anderer nicht verunsichern lassen sollten.

Kinderärztin Dr. Nadine Hess
Expertin Dr. med. Nadine McGowan: „Kinder müssen gar nichts! Ihr Kind sollte selbst herausfinden dürfen, was es interessiert.“ Foto: Privat

Das sagt die Kinderärztin Dr. med. Nadine McGowan

Was mir in meiner täglichen Arbeit und auch im Privatleben immer wieder begegnet und ich zunehmend schwierig finde, ist der Wettbewerb, den es offensichtlich um viele Kinder gibt – und der von den Eltern häufig auch noch gefördert wird! „Mein Kind konnte schon mit sechs Monaten stehen und mit zehn Monaten laufen!“, sagt die erste Mutter sichtlich stolz. „Mein Kind sagt schon „Mama“, deins etwa noch nicht?“, fragt eine zweite. Und die dritte Mutter meint: „Unsere Tochter fährt ja schon Fahrrad, sie ist gerade drei geworden, als nächstes macht sie den Schwimmkurs.“ Sagt sie das zu einem Elternpaar, dessen dreijährige Tochter noch nicht Fahrrad fahren oder schwimmen kann, führt das zu Verunsicherung. Noch schwieriger wird es, wenn die Mutter der schwimmbegeisterten Kleinen auch noch vermeintlich gute Ratschläge gibt: „Wenn deine Tochter mit fünf noch nicht schwimmen kann, würde ich aber unbedingt etwas unternehmen. Das geht ja gar nicht!“

Solche Gespräche sorgen nicht nur für die bereits genannte Verunsicherung, sie erhöhen auch den Druck auf die Eltern des scheinbar weniger gut entwickelten Kindes: Wenn offenbar alle anderen das schon können, warum kann es meins noch nicht? Sorgen sich alle anderen Eltern etwa mehr um ihren Nachwuchs und fördern sowie fordern ihn mehr als ich meinen?

Warum die individuelle Entwicklung so wichtig ist

Dabei vergessen viele, dass jedes Kind anders ist. Die Entwicklung von Kleinkindern und Kindern ist halt unterschiedlich. Es mag sein, dass das kleine Mädchen mit fünf noch nicht schwimmen kann – weil es Schwimmbäder doof findet, sehr schnell friert oder es ihm schlicht keinen Spaß macht, sich im Wasser zu bewegen. Dass die Kleine dafür ihr Lieblingsbuch auswendig vorsagen kann, weil sie sich Texte, die ihr nur wenige Male vorgelesen wurden, gut merken kann, scheint in dem Moment egal. Weil der Mutter von ihrem Umfeld suggeriert wird: Ein Kind muss alles können. Es muss überall gleich gut sein, man darf nicht nur auf seine Interessen Rücksicht nehmen. Schließlich muss es ja auch gefordert werden – da hat der Spaß des Kindes gefälligst zurückzustehen.

In solchen Situationen frage ich mich: Wann, wenn nicht in der Kindheit, darf man denn mal nur seinen Neigungen folgen? Nur das tun, worauf man Lust hat? Wir alle werden spätestens wenn die Schule losgeht schon früh genug an Dinge herangeführt, die uns nicht liegen und auch nicht unserem primären Interesse folgen. Ja, es stimmt: Man muss im Leben auch Dinge tun, die einem nicht gefallen und die schon allein deswegen schwieriger sind. Aber warum müssen wir Kindern schon von ganz klein auf Dinge aufzwingen, die ihnen nicht liegen oder einfach keinen Spaß machen? Kein Kind ist wie das andere. Das merkt man spätestens in der Trotzphase. Das eine Kind bewegt sich gern, das nächste sitzt lieber stundenlang mit einem Buch in der Ecke und schaut sich die Bilder an. Was von beidem ist besser?

Vielfalt ist wichtig – aber ohne Zwang

Natürlich ist es an den Eltern, dem Kind die Vielfalt unserer Welt zu zeigen – also, dass Bewegung Spaß machen kann, auch wenn man lieber mit einem Buch in der Kuschelecke liegt. Oder dass ein Museum toll sein kann, auch wenn einen das Thema auf den ersten Blick nicht reizt. Wenn man nicht zum Kinderturnen gehen will, spielt man aber vielleicht trotzdem gerne auf dem Spielplatz, klettert und schaukelt, bis man müde ist. Es ist relativ egal, ob das Kind nun beim Turnen gezielt durch Bewegung gefordert wird, oder ob es auf dem Spielplatz herumtollt – Hauptsache, es bewegt sich überhaupt und hat auch noch Spaß dabei. Und auch ein Kind, das am liebsten den ganzen Tag nur draußen unterwegs ist und vom Fußballspielen nicht genug bekommen kann, hört am Abend gern mal eine lange Gutenachtgeschichte.

Kinder müssen gar nichts – zum Glück!

Kein Kind sollte zu etwas gezwungen werden, bloß weil andere denken, dass es in diesem Alter doch schon dieses und jenes können müsste. Nein, Kinder müssen nicht! Die Kindheit ist die einzige Zeit im Leben, in der man nichts muss. Lassen Sie Ihr Kind seinen Neigungen folgen, damit es selbst herausfinden kann, was es interessiert. Unterstützen Sie es, bieten Sie ihm – soweit es Ihnen möglich ist – vieles an, aber lassen Sie es selbst entscheiden. Sehen Sie Ihr Kind als ganzes Individuum: Es ist einzigartig. Es mag vielleicht erst mit drei Jahren wirklich angefangen haben, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Dafür konnte es aber schon ganz früh laufen, ist mit dem Roller viel geschickter als andere Kinder in seinem Alter und hat eine besonders hohe Sozialkompetenz.

Ich habe übrigens erst mit neun Jahren schwimmen gelernt. Ich mochte einfach kein Wasser und hatte keine Lust darauf. Dafür konnte ich am schnellsten von meinen Freunden eine Runde um den Block mit dem Fahrrad fahren. Was von beidem ist wichtiger gewesen? Nichts. Ich fühle mich noch heute wohler auf dem Fahrrad als im Wasser. Und ich bin froh, dass meine Eltern mich nicht eher zum Schwimmen lernen gezwungen haben – meine Abneigung zu Schwimmbädern wäre heute wahrscheinlich größer.