Jon Kabat-Zinn – von der Wissenschaft zur Achtsamkeit

Dr. Jon Kabat-Zinn ist Molekularbiologe, Medizin-Professor – ein kluger Kopf, ein Mann mit Visionen: Er begründete die Achtsamkeitsbewegung, denn er erfand vor mehr als 35 Jahren das wissenschaftlich-fundierte Programm zur Stressbewältigung. Damit öffnete er die jahrtausendealte, buddhistische Lehre für den Westen. Seine Achtsamkeitspraxis wird heute in der ganzen Welt gelehrt
Wie Jon Kabat-Zinn zur Achtsamkeit kam
Erinnern Sie sich noch, wie alles begann?
Jon Kabat-Zinn: Mit einer Vorlesung. Ich studierte Molekularbiologie – und vorn am Pult stand ein Gerichtsreporter, der 13 Jahre in einem japanischen Zen-Kloster gelebt hatte: Philip Kapleau. Er berichtete vom Meditieren. Und dass er sich danach so wohl gefühlt hatte, wie noch nie in seinem Leben. Zudem seien seine Magengeschwüre, Allergien und die Schlaflosigkeit gänzlich verschwunden. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Aber meine Neugier war geweckt: Ich wollte unbedingt meditieren – damals war ich 21.
Wie waren Ihre ersten Erfahrungen?
Jon Kabat-Zinn: Wir reden über 1965. Meine Familie, Freunde, Bekannte – niemand meditierte. Fachbücher fand ich nur in hintersten Regalen. Mir kam das alles geheimnisvoll vor. Faszinierend. Man hatte in Asien etwas entdeckt und es seit Jahrtausenden entwickelt. Etwas, das Körper und Geist gut zu tun schien. Schließlich fand ich einen Meditationslehrer. Er fragte mich zu Beginn: „Wie behandelt die Welt Sie denn so?“ Ich murmelte: Es sei ganz in Ordnung. Dann fragte er: „Und wie behandeln Sie die Welt?“ Eine solche Frage hatte ich überhaupt nicht erwartet.
Warum?
Jon Kabat-Zinn: Ich dachte, dass ich mich beim Meditieren von der Welt da draußen ausklinke. Dass sie nicht vorhanden wäre. Diese beiden Fragen jedoch machten mir klar: Es gibt kein „da draußen“ und kein „da drinnen“. Kein Ausklinken. Kein Losgelöst-Sein. Vielmehr stehen wir in einer intensiven Beziehung zur Welt – und zwar in JEDEM Augenblick. Allmählich verstand ich, dass in dieser fernöstlichen Tradition dem Augenblick eine Schlüsselrolle zukommt. Dem Jetzt. Weil wir gern durch die Gegenwart eilen und hoffen, später bessere Momente zu erfahren. Dabei aber verpassen wir unser Leben. Ich lernte: JETZT ist immer die richtige Zeit – denn es ist die einzige Zeit.

Träumten Sie jemals davon, Ihr Wissen in einem Kloster zu vertiefen?
Jon Kabat-Zinn: Nein. Ich bezeichne ich mich nicht als Buddhisten, lieber als glühenden Studenten der buddhistischen Meditation. Ich löste sie aus der religiösen Spiritualität heraus, entwickelte ein achtwöchiges Programm zur Stressreduktion und gründete eine Klinik in Massachusetts.
Weshalb das Achtsamkeitsprogramm von Jon Kabat-Zinn so wichtig ist
Wie definieren Sie „Stress“?
Jon Kabat-Zinn: Er ist auf mehreren Ebenen gleichermaßen wirksam: auf der psychischen, der physischen und der sozialen Ebene. Alle drei Ebenen beeinflussen sich gegenseitig. Das Ausmaß des Stresses jedoch, das hängt vollständig davon ab, wie wir die Dinge wahrnehmen – und mit ihnen umgehen. Was wiederum bedeutet: Wir können einen bewussten, intelligenten Umgang mit Stress erlernen und ihn so in Grenzen halten. Hier setzt das achtwöchige Programm an.
Worum genau geht es?
Jon Kabat-Zinn: Ich möchte die Betroffenen ermutigen, nicht FÜR den Moment, sondern IN ihm zu leben. Dazu geben wir ihnen Techniken an die Hand. Zum Beispiel schulen wir sie im Meditieren. Darin, auf ihren Atem zu achten, mit den Gedanken durch den Körper zu wandern. Zu spüren, wo es schmerzt oder wobei sie sich wohl fühlen. Wir sensibilisieren sie für die Signale ihres Körpers und ihres Geistes – für eine andere Art des Seins. Sie üben sich im Nicht-Tun, was nicht Tagträumen oder Schlafen heißt. Vielmehr lernen sie, sich in das Jetzt hinein zu entspannen und zwar so, wie sich ihnen das Jetzt jetzt darbietet. Ohne es mit irgendetwas anderem zu füllen. Ohne zu werten. Ohne zu urteilen. Nur wahrzunehmen.
Gab es skeptische Töne?
Jon Kabat-Zinn: Klar sahen mich manche zunächst als „Dr. Hatallesbeieinander“ oder „Mr. Weisheit- und-Mitgefühl-Inkarnation“. Da ich aber Forscher war und bei einem Nobelpreisträger gelernt hatte, gingen alle davon aus, dass ich weiß, was ich tue. Man ließ mich machen.
Was sagten Ihre Patienten?
Jon Kabat-Zinn: Sie kamen, weil sie verzweifelt waren. Sie litten an Depressionen, an Burnout, an schweren Herzerkrankungen. Viele galten im medizinischen Sinn als „austherapiert“. Nun gingen sie zu ihrem Hausarzt zurück und sagten: „Diese acht Wochen haben mir mehr geholfen als Sie in acht Jahren…“

… Sie haben eine Zauberformel gefunden…
Jon Kabat-Zinn: … nein, ich will nicht behaupten, dass Achtsamkeit ein Allheilmittel ist. Danach suche ich nicht. Aber sie ist einzigartig, weil sie Ruhe in die Hektik unseres Alltags bringt und uns hilft, besser mit Stress, Ängsten, negativen Gefühlen oder auch Krankheiten umzugehen. Dadurch gewinnen wir Lebensfreude zurück, ja: Lebensqualität. Heute ist wissenschaftlich belegt, dass Meditation die Architektur unseres Gehirns beeinflusst. Sie kann die Chromosomen in den Genen verändern und steuern – Gene, die zum Beispiel für Entzündungsreaktionen verantwortlich sind. Ich habe Patienten, die an Schuppenflechte erkrankt waren, in eine Box mit UV-Licht gesetzt und ließ sie dabei meditieren. Ihre Haut heilte viermal schneller, als mit der Lichttherapie allein. Die Forschungen sind eindeutig. Dadurch hat sich die Gesellschaft dem Thema Meditation sehr geöffnet.
Neben den Achtsamkeitsprogramm von Jon Kabat-Zinn gibt es inzwischen Achtsamkeitskurse an jeder Ecke – sogar Achtsamkeits-Schmuck und -Tee
Jon Kabat-Zinn: Immer, wenn etwas erfolgreich ist, wird es stark vereinfacht, verzerrt, verfremdet – „McMindfulness“ ist in vollem Gange. Doch wer nur das schnelle Geld im Auge hat, wird die wahre Essenz der Achtsamkeit nicht erfahren. Achtsamkeit ist kein Modetrend, sondern eine Lebenseinstellung. Achtsamkeit ist die Kunst, sich durch Meditation ganz im Hier und Jetzt zu befinden. Die Kunst, bewusst zu leben. Für mich ist Achtsamkeit eine Liebesbeziehung mit dem Leben, mit der Schönheit unseres Seins.
Befürchten Sie den großen Ausverkauf?
Jon Kabat-Zinn: Nein, ich bin da überhaupt nicht pessimistisch. Achtsamkeit ist eine der tiefsten, stärksten und schönsten Lehren, die je hervorgebracht wurden. Gerade hat das britische Parlament ein Papier verabschiedet, worin mehr Mittel und Programme für Achtsamkeit verlangt werden: in der Bildung, im Gesundheitswesen, dem Strafrecht und in der Technologie-Entwicklung. Eine Regierung verleiht der Achtsamkeit Nachdruck – das hat es bislang noch nicht gegeben.
Welche Frage wird Ihnen am häufigsten gestellt?
Jon Kabat-Zinn: „Mache ich es richtig?“ – Menschen, die gerade erst mit der Achtsamkeitspraxis beginnen, fragen sich ob das, was sie erfahren, das ist, was sie erfahren sollten.
Was antworten Sie?
Jon Kabat-Zinn: „Wenn Sie sich dessen bewusst sind, was geschieht, dann machen Sie es richtig – egal, was geschieht.“ Das ist vielleicht nicht einfach zu akzeptieren, aber es ist wahr. Es spielt keine Rolle, ob Sie es mögen oder nicht, ob es sich gerade besonders „meditativ“ anfühlt oder nicht. Es ist der Lehrplan Ihres Lebens, der sich jetzt und hier entfaltet.

Was bringt Sie eigentlich aus der Fassung?
Jon Kabat-Zinn: Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich im Spülbecken die Fressnäpfe unserer Katzen mit angetrockneten Futterresten finde – zusammen mit unserem Geschirr. Das habe ich schon so oft gesagt! Es ärgert mich. Ich halte meinen Ärger für legitim, fühle mich im Recht. Katzenfutter gehört nicht in die Spüle! Seit kurzem jedoch versuche ich, meine Gefühlsregungen sehr genau zu beobachten. Nehme wahr, ohne zu werten. Ein gutes Achtsamkeits-Training …
… mit welchem Ergebnis?
Jon Kabat-Zinn: Mir wird bewusst, dass mich vor allem das Gefühl ärgert, ignoriert worden zu sein. Nun sage ich mir, dass meine Familie normalerweise meine Wünsche respektiert – wenn diese für sie nachvollziehbar sind. Was hier irgendwie nicht der Fall ist… Aber ich verstehe, dass sie mich keinesfalls ärgern wollen. Seitdem wasche ich die Schüsseln entweder schnell aus oder ich übersehe sie einfach.
Mit Achtsamkeit und dem Programm von Jon Kabat-Zinn kommen wir zur Ruhe
Jon Kabat-Zinn: Wir alle marschieren zum Rhythmus unseres inneren Trommlers. Unablässig trommelt er – unser Gedankenstrom. Das liegt in unserer Natur. Mit der Meditation können wir den Strom unterbrechen. Doch das erfordert eine gewisse Disziplin. Es gilt, den Trommler wieder und wieder zur Ruhe zu bringen. Die Gedanken zurück auf den Atem zu lenken. Und sie einzufangen, wenn sie erneut trommeln wollen.
Wie viel Zeit sollte ich dafür einplanen?
Jon Kabat-Zinn: Das Wichtigste ist das tägliche Üben. Selbst wenn Sie nur fünf Minuten am Tag dafür aufbringen können – diese fünf Minuten entfalten eine regenerierende, heilende Wirkung.
Welche Übungen empfehlen Sie noch für den Alltag?
Jon Kabat-Zinn: Gemüseschneiden kann eine achtsame Erfahrung sein. Unkraut jäten. Duschen. Eine Bahnfahrt. Oder das Treppensteigen: Manchmal nehme ich zwei Stufen zugleich – dann merke ich es und gehe bewusst Stufe für Stufe. Dabei versuche ich, tief ein- und auszuatmen.

Was ist für Sie Weisheit?
Jon Kabat-Zinn: Zu erkennen, anzunehmen, wie die Dinge sind. Und das hat nichts mit Aufgeben zu tun. Auch nicht damit, andere auf uns herumtrampeln zu lassen. Akzeptieren, zu sehen: „Es-ist-was-es-ist“, das gibt uns die Orientierung, um im nächsten Moment angemessen zu handeln. Wir können unseren Weg nur von dort aus starten, wo wir gerade stehen. Sonst verlaufen wir uns. Insofern ist Akzeptanz ein Ausdruck gelebter Weisheit.
Welchen Ratschlag geben Sie Ihren Enkeln mit auf den Weg durchs Leben?
Jon Kabat-Zinn: Macht eure eigenen Erfahrungen. Und: Habt Geduld. Ihr könnt die Jahreszeiten nicht zur Eile antreiben – Dinge entfalten sich zur gegebenen Zeit von ganz allein.
Dr. Jon Kabat-Zinn: Erfinder des Achtsamkeitstrainings
Jon Kabat-Zinn studierte Molekularbiologie in Cambridge/USA, wo er im Labor des Medizin-Nobelpreisträger Salvador Edward Luria arbeitete. Er promovierte 1971. Acht Jahre später gründete er die renommierte „Stress Reduction Clinic“ in Worcester/Massachusetts deren Geschäftsführer er bis 1995 war. Hier vermittelte er das wissenschaftlich fundierte, achtwöchige Programm der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) und erforschte dessen Wirkung. Seine Erkenntnisse beruhen auf 35 Jahren Erfahrung mit 16 000 Patienten. Mehr als 300 Kliniken arbeiten heute allein in den USA nach seinem Ansatz. Weltweit gibt es inzwischen mehr als 1000 MBSR-Trainer. Jon Kabat-Zinn ist emeritierter Professor für Medizin an der University of Massachusetts Medical School. Außerdem gehört er zu den wenigen ausgewählten Wissenschaftlern, die im „Mind and Life Institute“ mitarbeiten, das u. a. der Dalai Lama gegründet hat. Jon ist verheiratet, hat zwei Töchter, einen Sohn und ist inzwischen stolzer Großvater. Nur selten gibt er noch Interviews und Seminare. Bücher von Jon Kabat-Zinn: „Achtsamkeit für Anfänger“ (mit Übungs-CD; Arbor Verlag, 24,90 Euro). „Zur Besinnung kommen“ (Arbor Verlag, 19,90 Euro). „Im Alltag Ruhe finden. Meditationen für ein gelassenes Leben“ (Knaur MensSana; 9,99 Euro). Jon & Myla Kabat-Zinn: „Mit Kindern wachsen“ (Arbor Verlag, 22,90 Euro). Seminare in MBSR: www.arbor-seminare.de