Ist Musik Doping fürs Gehirn?

Frau hört Musik
Musik berührt, verbindet und verbessert uns Foto: Fotolia

Die 15 Chirurgen wissen nicht, warum sie den Auftrag bekommen haben, Wunden an abgetrennten Schweinefüßen zu vernähen. Die einzige Vorgabe: „Gebt euer Bestes!“ An zwei verschiedenen Tagen stehen sie dazu im künstlichen OP der Universität Texas.

Als das Forscherteam um den Schönheitschirurgen Shelby Lies danach die Nähte und Videoaufnahmen der OPs untersucht, sieht es seine These bestätigt: An jeweils einem Tag lieferten die Chirurgen eine weit bessere Arbeit ab, als an dem anderen. Sie nähten schneller und genauer. Der Grund: Musik.

Professor Lies hatte sie ihnen an dem einen Tag während der OP vorgespielt – unauffällig im Hintergrund.  Aufgrund seiner eigenen beruflichen Erfahrungen hatte er zuvor vermutet, dass die Lieblingsmusik Chirurgen bei ihrer komplizierten Arbeit helfen kann. Das konnte er jetzt mit seiner Studie beweisen. 

Musik aktiviert versteckte Kräfte, die in jedem schlummern – obwohl sie ablenken müsste, verbessert sie unsere Konzentration. Doch wie wird Musik im Gehirn verarbeitet? Und warum empfinden wir Musik so unterschiedlich?

Wie wird aus einer Schallwelle Musik?

Ein Ton ist zunächst nichts Weiteres als eine Welle mit unterschiedlichen Frequenzen - nur ein physikalischer Vorgang, der die Ausbreitung von Druck und Dichte in der Luft beschreibt. Im Gehirn wird daraus ein fröhliches Klavierspiel, eine herzzerreißende Schnulze oder ein brachiales Rockkonzert. Doch der Klang steht erst am Anfang seiner Reise - als Schallwelle.

Diese muss im Bereich zwischen 16 Hertz und 20 Kilohertz schwingen, um wahrgenommen zu werden. Die Welle dringt in das Ohr ein, trifft auf das Trommelfell und das Gehörknöchelchen. Schall ist auch Druck, der ausgeübt wird, die Stärke wird in Dezibel angezeigt. Eine normale Unterhaltung findet bei circa 50 Dezibel statt, die Schmerzgrenze ist bei etwa 130 Dezibel erreicht.

Wie wir hören
Lautstärke, Klangfarbe und Tonhöhe: Das Gehirn registriert und verarbeitet jede Information, die in einem Ton transportiert wird – Musik wird erst im Kopf geboren Foto: Fotolia

Das Gehörknöchelchen gibt den Druck weiter, schlägt auf die mit Flüssigkeit gefüllte Hörschnecke: Aus der Schallwelle wird eine Wanderwelle - wie es sie millionenfach in jedem Ozean gibt. 3500 Haarzellen wandeln den Druck der Wellen in elektrische Impulse um: eines der effektivsten Sinnesorgane, da es viel mehr neuronale Aktivitäten erzeugt als etwa die 100 Millionen Lichtrezeptoren im Auge.

Über den Hörnerv werden die elektrischen Impulse zum Gehirn geleitet, eine Daten-Autobahn, die selbst dann aktiv ist, wenn sie nicht befahren wird. Tatsächlich hat sogar totale Stille einen Klang. Amerikanische Neurowissenschaftler haben jetzt herausgefunden, dass es eine Nervenbahn gibt, die ausschließlich das Aussetzen von Geräuschen übermittelt. Doch warum registriert das Gehirn Stille? „Dies ist für das Verstehen von Sprache wichtig“, sagt Michael Wehr von der University of Oregon. Würde das Gehirn in den Worten keine Pausen erkennen, käme beim Hörer nur ein Einheitsbrei an.

Der Hörnerv leitet die akustischen Signale von Musik schließlich ins Gehirn - und verarbeitet sie in mehreren Stationen: Vom Hirnstamm, der erste Informationen über Richtung, Anfang und Ende des Tons ermittelt, über das Zwischenhirn bis zum Großhirn - jede dieser Regionen wird aktiviert. Der Hirnstamm leitet die Impulse parallel zu Kleinhirn, Thalamus und limbischem System, dem Gefühlszentrum des Menschen. Hier werden der Musik die Emotionen zugeordnet: Ist sie traurig oder fröhlich? Diese Grundstimmung sagt noch nicht aus, ob man Gefallen an der Musik findet. Das regelt die primäre Hörrinde im Großhirn. Hier werden Erinnerungen mit der Musik in Zusammenhang gebracht, denn ob wir einen Song gut finden, ist ein Erfahrungsprozess. Kleinkinder bevorzugen einfache Lieder. Je älter der Mensch wird, desto komplexer darf die Musik werden. Doch welche Instanz in unserem Gehirn entscheidet darüber, welche Musikerfahrung lohnend ist?

Liegt der Musikgeschmack in den Genen?

Aus den Lautsprechern tönt Queen. Snowball ist nicht mehr zu halten: Der Gelbhaubenkakadu tanzt zu dem Rhythmus des Songs „Another one bites the dust“ und wird so mit über fünf Millionen Klicks zu einem der ersten YouTube-Phänomen. Doch es geht nicht nur um eine zoologische Kuriosität: Aniruddh Patel vom Institut für Neurowissenschaften in La Jolla in Kalifornien will mit Snowballs Hilfe verstehen, wie Rhythmus im Gehirn wahrgenommen wird.

Rhythmus ist die messbare Grundlage jeder Musik - mehr noch: Jeder Vorgang in der Natur ist rhythmisch angelegt. Im menschlichen Körper existieren gleich mehrere Biorhythmen, auf die Musik Einfluss hat. Wer beim Sport Musik hört, ist motivierter und spürt die Anstrengung weniger. Mit dem richtigen Rhythmus kann man seine Leistung sogar noch weiter steigern: bis zu 15 Prozent, sagen Forscher der Londoner Brunel University. 14-bis 30-mal feuert eine Gehirnzelle elektrische Impulse - der sogenannte Betawellen-Rhythmus. Bringt man diese Welle mit dem Rhythmus eines Lieds in Einklang, synchronisieren sich die Wellen. Dieser Einklang wird vom limbischen System mit Dopamin belohnt. Das Glückshormon treibt einen Sportler zu mehr Leistung an. Neben dem Rhythmus entscheidet die Harmonie, ob Musik als angenehm empfunden wird. Peter Schneider von der Neurologischen Universitätsklinik in Heidelberg sagt, diese Vorlieben seien angeboren.

Wie ein Orchester funktioniert

Ein Klang besteht aus Grund- und Obertönen, die jeder Mensch verschieden wahrnimmt. Ein Blick in ein Orchester schafft Klarheit. Bei modernen Sinfonieorchestern sitzen links vom Dirigenten die ersten Geigen, die Flöten und das Schlagwerk. Das sind Instrumente, die kurze, impulsive Klänge wiedergeben und von Musikern gespielt werden, die vor allem den Grundton hören. Rechts vom Dirigenten sind die Celli, Bratschen, Kontrabässe, das Fagott und die Tuba. Sie produzieren eher lange und tiefere Klänge. I

hre Musiker hören aus einem Klang die Obertöne besser heraus. Die Sitzordnung eines Orchesters ist fast eins zu eins auf das Gehirn übertragbar. Obertöne werden rechts im Gehirn wahrgenommen, Grundtöne links. Entscheiden diese Töne auch über den Musikgeschmack? Tatsächlich ist jedes Gehirn unterschiedlich gepolt. „Die linke Seite ist eher für die zeitliche Verarbeitung von Tönen zuständig, die rechte für die Entschlüsselung von Frequenzen“, erklärt Schneider. Reagiert die linke Seite stärker auf Grundtöne, hören diese Menschen lieber Gitarren als Oboen und verarbeiten komplexe Rhythmen besser. Ist die rechte Seite stärker ausgeprägt, ziehen sie Violinen Trompeten vor und können lange Melodiebögen analysieren. Die erfolgreiche Analyse belohnt der Mandelkern im limbischen System wieder mit Dopamin - der Mensch fühlt sich wohl, die Musik gefällt ihm.

Frau genießt Musik
Musik verändert den Herzschlag, den Blutdruck, die Atemfrequenz und die Muskelspannung Foto: Fotolia

Eine weitere Schlussfolgerung: Für jeden Menschen müsste es ein Instrument geben, das er besonders gut beherrschen kann - je nachdem, welche Hirnhemisphäre aktiver ist. Professionelle Musiker können ihr Gehirn darauf trimmen, beide Seiten zu nutzen. Schon 20 Minuten Klavierspielen oder Trommeln vergrößert die Vernetzung zwischen den beiden Hemisphären, wie ein Muskel, der nach einem Krafttraining größer wird. Das gilt nicht nur für Profis: Auch bei Anfängern führt tägliches Musizieren zu neuen neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Dies vergrößert nicht nur die Speicherfähigkeit im Kopf. Musiker können auch feinste Veränderungen in den Klängen wahrnehmen - selbst bei der Sprache. In welchem emotionalen Zustand sich ein Sprecher gerade befindet, ist für den Musiker meist ein offenes Buch.

Kann man mit Musik heilen?

Musik ist nicht nur gut für die Seele, sondern kann auch gezielt wie ein Medikament bei bestimmten Krankheiten eingesetzt werden: Durch die Tinnitracks-Methode lässt sich mit dem eigenen Lieblingslied Tinnitus lindern, sie kann ähnlich wie ein Schmerzmittel nach OPs eingesetzt werden und: Musik soll sogar der gefürchteten Krankheit Parkinson vorbeugen.

Kann man mit Musik Gedanken lesen?

„Mir geht es gut.“ Wie viele Informationen transportiert dieser Satz? Für die meisten Menschen nur eine: den Inhalt. Doch in Wirklichkeit ist dieser Satz ein komplexes Gebilde aus Lauten und Tönen. In welcher Frequenz schwingen die Töne? Wie ist die Klangfarbe? Musiker können diese Informationen aus einem Gespräch heraushören. Ihr Gehirn ist darauf programmiert, alle Facetten eines Tons bewusst zu analysieren und so Emotionen zu erkennen. Die Gefühlslage des Sprechers ist für Musiker meist so offensichtlich, dass sie Widersprüche sofort ausmachen. Ein „Mir geht es gut“ kann auch genau das Gegenteil bedeuten.

Wie man sein Gehirn mit Musik trainiert

Es ist wie das Erlernen einer Fremdsprache: Schon beim regelmäßigen Hören von Musik werden einzelne Zellgruppen aktiviert und verbessert.

Kann man mit Madonna länger laufen?

Viele Sportler machen es intuitiv richtig: Sie hören beim Laufen und Joggen Musik. Dass jeder mit der richtigen Song-Auswahl die eigene Leistung um bis zu 15 Prozent steigern kann, haben jetzt Wissenschaftler aus London nachgewiesen. Dabei ist der Rhythmus entscheidend. 120 bis 140 Schläge pro Minute sollte der Song schon haben, stellten die Forscher unter anderem anhand der Musik von Madonna fest. Das Gehirn kann sich auf diesen Rhythmus einstellen. Es synchronisiert die Betawellen der Hirnneuronen mit dem Takt der Musik.

Kann uns Musik süchtig machen?

Sie können ohne Musik nicht mehr einschlafen, haben bei jeder Gelegenheit die Stöpsel ihres MP3-Players im Ohr: Musiksüchtige. Doch gibt es so etwas wirklich? Musiksucht gilt nicht als Krankheit, doch immer mehr Menschen können ihr Leben ohne Musik nicht mehr meistern. Schuld daran ist das Glückshormon Dopamin. Das wird bei musikalischen Hochgefühlen im limbischen System ausgeschüttet. Da dort Musik auch mit Emotionen verknüpft wird, ist der Rausch ungleich größer bei Menschen, deren Alltag „gefühllos“ ist. Sie werden süchtig nach dem Dopamin-Kick.

Kann man mit Jazz Gesetze brechen?

Was man machen darf und was nicht, hat jeder Mensch in einer Region im dorsolateralen präfrontalen Cortex abgespeichert. Der ist der große Zensor im eigenen Kopf und der größte Gegner der Kreativität. Aber Musik kann ihn ausschalten. Bei Untersuchungen an Jazzmusikern stellten die Forscher fest, dass beim Improvisieren die Aktivität in der Zensurregion stark zurückging. Dafür stieg die neuronale Energie im medialen präfrontalen Cortex: Dort vermuten Forscher den Sitz der Kreativität.

Wann wird Musik zu Stress?

Lautstärke und unharmonische Tonreihen führen im Gehirn zu Hörstress. Ist Musik unharmonisch, sind mehr Gehörzellen gleichzeitig im Einsatz, worauf Gehirn mit Stress reagiert. Auch zu hohe Lautstärken führen zu Stress. Bereits ab 50 Dezibel (Gespräch) können Geräusche Stress auslösen. Dabei steigt die Dezibelzahl exponentiell an: Verkehrslärm (75 Dezibel) ist mehr als 20-mal so laut wie ein Gespräch.