Ist das schon krankhaft?

Psychose Putzzwang
Beherrscht Putzen den Alltag, ist das kein Tick mehr sondern eine Zwangsstörung, die therapiert werden sollte Foto: Fotolia

Jeder hat seine Macken. Gut so, denn sie sind ein Teil unserer Persönlichkeit. Aber wann wird die Marotte kritisch? Praxisvita zeigt die anschaulichsten Alltagsbeispiele.

Habe ich den Herd ausgemacht? Ist die Tür auch wirklich abgeschlossen? Das hat sich jeder schon mal gefragt, und das ist auch völlig in Ordnung. Aber wenn jemand ständig zu spät zur Arbeit kommt, weil er prüfen muss, ob das Fenster auch wirklich geschlossen, die Kaffeemaschine ausgeschaltet, der Wasserhahn abgedreht ist? ,,Das sind Zwangsstörungen", erklärt der Psychoanalytiker Rainer Rehberger aus Seefelden, ,,und sollte therapiert werden." Bei anderen Verhaltensweisen geht es nicht um Sicherheit. Da gibt es zum Beispiel das Messie-Syndrom. Schätzungen zufolge leiden rund zwei Millionen Deutsche daran. Im Fernsehen gruseln wir uns bei Bildern von völlig vermüllten Wohnungen und verzweifelten Menschen, die einfach nichts wegwerfen können. ,,Unordnung ist nur eine Seite dieser Psychose", sagt Rainer Rehberger. ,,Typisch für Messies ist, dass sie vieles nicht tun, obwohl sie es eigentlich wollen." Ständig sind sie mit Planen beschäftigt, können aber nichts davon umsetzen. Dazu kommt die Scham über die eigene Unfähigkeit. Die Ursachen solcher Verhaltensweisen liegen meist in der Kindheit. ,,Zu frühe Strenge, zu früher Zwang", fasst Rehberger knapp zusammen. Eine Therapie ist schwierig, außerdem ist das Messie-Syndrom von den Krankenkassen nicht als Diagnose anerkannt, Zwangsstörungen aber schon. Wann wird die Marotte zur Psychose?

,,Ich würde nie ins Bett gehen, wenn noch schmutziges Geschirr herumsteht"

Was ist noch normal? Wer es gern sauber mag und deshalb auch noch nach Mitternacht die Reste einer Feier beseitigt, sollte das tun. Auch die Häufigkeit des Putzens ist Ansichtssache. Bei den einen könnte man buchstäblich vom Boden essen, für andere ist diese Einstellung unverständlich. Sie konzentrieren sich lieber auf andere Dinge. Entscheidend ist, dass man sich wohlfühlt.

Wo wird es kritisch? Beherrscht Putzen den Alltag, ist das kein Tick mehr. Wer nach festgelegten Regeln täglich einen sauberen Boden bearbeitet, ständig die Fenster putzt oder Schubladen neu sortiert, leidet an Putzzwang. ,,Etwa 1,5 Millionen Deutsche erkranken im Laufe ihres Lebens daran", berichtet Privatdozentin Dr. Katarina Stengler, Leiterin der Ambulanz für Zwangserkrankungen an der Uniklinik Leipzig. ,,Beide Geschlechter sind etwa gleich oft betroffen. Frauen leiden stärker unter Putz- oder Waschzwang, Männer häufiger unter Kontrollzwang. Sie erkennen ihr Tun als übertrieben, können sich aber nicht dagegen wehren. Viele ziehen sich immer mehr zurück, weil die Freizeit nur noch für die Zwangsrituale reicht. Aus Scham suchen die meisten erst dann Hilfe, wenn sie nicht mehr können.

,,Kaum bin ich aus der Wohnung, überlege ich, ob auch alle Geräte ausgeschaltet sind"

Was ist noch normal? Ist man sehr in Eile oder gedanklich ganz woanders, vergisst man leicht etwas. Dann sind solche Überlegungen normal. Entscheidend ist, dass das nicht ständig passiert. Wer einmal umkehren musste und zu spät zur Arbeit kommt, dem passiert das am nächsten Tag nicht mehr. Er achtet jetzt darauf, dass alles in Ordnung ist.

Wo wird es kritisch? Wer sich auch nach Verlassen der Wohnung immer wieder vergewissern muss, dass alles okay ist, leidet unter Kontrollzwang. Er weiß, dass sein Verhalten unsinnig ist, kann aber nichts dagegen tun. Die Rituale haben eine Funktion: Sie verhindern eine Steigerung der Ängste. Betroffene nehmen lieber den Zwang als die Angst in Kauf.

,,Wenn ich schlecht drauf bin, gehe ich shoppen. Dann geht es mir wieder besser"

Psychose Kaufsucht
Wer sich gelegentlich mit einem neuen Kleidungsstück verwöhnt, braucht sich keine Sorgen zu machen. Geht es allerdings nur noch um das Kaufen selbst, spricht man von einem Kaufzwang Foto: Fotolia

Was ist noch normal? Wer sich gelegentlich mit einer neuen Bluse oder schicken Schuhen verwöhnt, macht alles richtig. Die Freude über die neuen Sachen tut der Seele gut. Allerdings sollte man beim Shoppen darauf achten, dass das Budget nicht gesprengt wird. Sonst kommt spätestens am Monatsende der Katzenjammer.

Wo wird es kritisch? Wenn es nur noch um das Kaufen selbst geht, nicht mehr um die Kleidungsstücke. Die verschwinden im Kleiderschrank, werden oft nie getragen. Viele wollen nicht, dass der Partner davon erfährt. Sie leiden unter Schuldgefühlen, haben Angst vor Vorwürfen. Wer unter Kaufzwang leidet, hat oft Schulden. Aber ohne Therapie muss er immer weitermachen.

,,Alles ist voller Schmutz und Bakterien. Ich muss mir dauernd die Hände waschen"

Was ist noch normal? Jeder wäscht sich die Hände, wenn er im Bus unterwegs war oder öffentliche Gebäude besucht hat. In der Erkältungszeit wird häufiges Händewaschen von Ärzten sogar ausdrücklich empfohlen. Manche tun das gründlich und mit viel Seife, bei anderen geht es schneller. Beides ist normal.

Wo wird es kritisch? Manche haben eine panische Angst vor Schmutz oder Krankeitserregern. Deshalb waschen sie ihre Hände häufig so oft, bis sie bluten, und selbst dann können sie nicht aufhören. Immer nach einem bestimmten Ritual, beispielsweise fünf Minten einseifen, dann 50-mal mit der Bürste schrubben, anschließend fünf Minuten abwaschen. Angehörige tragen den Waschzwang oft mit. Sie nehmen die hohe Wasserrechnung in Kauf oder dulden, dass sämtliche Familienmitglieder aus Angst vor Mikroben ihre Kleidung bereits vor der Wohnungstür ablegen müssen. Aber damit helfen sie dem Betroffenen nicht.

,,Ich merke gar nicht mehr, dass ich oft an den Häutchen der Fingernägeln zupfe"

Was ist noch normal? Der eine kaut am Daumen, der andere kratzt sich am Haaransatz oder streicht sich über die Nasenflügel: Das sind typische Verhaltensweisen bei Stress und harmlos, weil sie auf bestimmte Situationen beschränkt sind und nach kurzer Zeit wieder aufgegeben werden.

Wo wird es kritisch? Wer ständig seine Fingernägel bearbeitet, obwohl das Häutchen schon ausgefranst ist und blutet, hat ein Problem. Welche Angst genau dahinter steckt, kann nur der Therapeut herausfinden. An solchen Zwangsstörungen ist meist ein einschneidendes Erlebnis schuld, das nicht verarbeitet wurde.