Im Alter vom Kindheitstrauma eingeholt

Eine ganze Generation von Kriegs- und Flüchtlingskindern wurde im und nach dem zweiten Weltkrieg schwer traumatisiert. Damals blieb keine Zeit für Verarbeitung – jetzt, im Alter, leiden einige von ihnen unter einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung. Lesen Sie hier, wie es zu diesem zeitversetzten Trauma kommt.
Auf dem brüchigen Eis des Frischen Haffs erfror die Seele von Ilse K. Im Februar 1945 floh die heutige Rentnerin, damals siebenjährig, mit drei Geschwistern, ihrer Mutter und der Großmutter aus Ostpreußen. An unzähligen Leichen – verhungert, bizarr verrenkt, erstarrt oder von Tieffliegern verstümmelt – zog der Treck vorbei. Auch ein Bruder und die geliebte Großmutter blieben zurück. Zeit zum Trauern oder um die traumatischen Erlebnisse gar zu verarbeiten, gab es damals nicht. „Es hieß nur: Alles halb so schlimm, das wird schon wieder“, sagt Ilse K. Die Devise der Zeit: Bloß nichts fühlen – andere waren schlimmer dran. Was war denn schon das eigene kleine Schicksal gegenüber den monströsen Verbrechen des Hitler-Regimes? Man fühlte Scham und „funktionierte“! Zwar gelang der heute 70-Jährigen die Flucht – von der Erinnerung jedoch wurde sie eingeholt: „Ich sah vor zwei Jahren im Fernsehen zufällig ein halb im Eis versunkenes Auto, als plötzlich alles wieder hochkam“, offenbart die Rentnerin. Das neu erwachte Trauma (posttraumatische Belastungsstörung) förderte eine starke Depression zutage.
Überlebende mit posttraumatischer Belastungsstörung
Ob Flucht, Vergewaltigung, Bombenkrieg oder der Tod geliebter Menschen – viele der rund 14 Millionen deutschen Kriegskinder der Jahrgänge 1930 bis 1945 tragen schwer an ihrem Trauma. Sie haben Albträume, Depressionen, Panikanfälle, Herzschmerzen- oder Angstzustände. „Die Zeit an sich heilt nicht alle Wunden. Sie müssen erst entsprechend versorgt werden“, erklärt Psychiater Peter Heinl. So kann die Psyche den Schmerz und die Trauer verarbeiten. Doch dazu muss das Erlebte ins Bewusstsein dringen. Das ist oft erst jetzt der Fall. Denn nun, im Alter, hat man Zeit, auf das Leben zurückzuschauen. Zudem verliert das Gehirn im Laufe der Jahre zunehmend die Fähigkeit, Verdrängtes unter Verschluss zu halten. Dann kehrt die Erinnerung an das eigene Leid wieder. Ein Geruch, ein Geräusch oder, wie im Fall Ilse K., ein TV-Bericht reichen aus und schon bricht eine Sturzflut aus Erlebtem über die Betroffenen herein. Doch die Generation Kriegskind kann die posttraumatische Belastungsstörung dank professioneller Unterstützung überwinden. Hilfe und Austausch mit Schicksalsgenossen bietet auch das Internet, etwa unter www.kriegskind.de.
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