Ich sehe etwas, was ich nicht sehe...

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optische Täuschung
Die scheinbare Bewegung lenkt Ihre Wahrnehmung immer wieder auf das Muster. Diese ständigen Warnsignale des Gehirns können bei dem einen oder anderen Betrachter zu Schwindelgefühlen und Übelkeit führen. Machen Sie weitere Tests in unserer Bildergalerie Foto: shutterstock

Ich sehe etwas, was ich nicht sehe...

Das menschliche Auge liefert bis zu 16 Bilder pro Sekunde. Unser Gehirn kann jedoch nur einen Bruchteil davon verarbeiten. Der Rest beruht auf Spekulationen. Aber wie real ist dann das, was wir sehen?

Apollo Robbins hat eigentlich keine Chance. Ganz allein auf einer Bühne vor 200 aufmerksamen Neurowissenschaftlern soll der Magier einem Menschen die Wertsachen abnehmen, ohne dass es irgendjemand sieht. „In dieser Annahme liegt jedoch bereits der erste Fehler", sagt der Neurophysiologe Stephen L. Macknik: „Denn Robbins ist bei seinen Tricks nie allein. Im Gegenteil, er hat eine Armee von Verbündeten. Bei jedem seiner Täuschungsmanöver arbeiten Milliarden Nervenzellen für ihn. Sie agieren in den Köpfen der Zuschauer, genauer gesagt in ihren Wahrnehmungszentren, und lassen die Menschen nur das sehen, was Robbins will." Der Magier spürt die konzentrierten Blicke der Wissenschaftler. Er wendet sich dem Mann auf der Bühne zu, redet eine Minute auf ihn ein und lässt seine Hände über den Anzug des Probanden wandern, in dessen Taschen aber greift er erkennbar nicht. Dann dreht er sich zum Publikum und präsentiert den überraschten Forschern einen Kugelschreiber, eine Uhr und eine Brieftasche. Alles aus dem Anzug des Mannes. Robbins hat es geschafft. Der 37-Jährige hat sich unbemerkt in 200 Gehirne gehackt und die Neuronen im Wahrnehmungszentrum derart manipuliert, dass die Forscher trotz aller Konzentration blind für das Geschehen auf der Bühne waren.

„Das", sagt Macknik, „ist jedoch keine Magie, sondern ein Phänomen, das jeden Tag in unseren Köpfen stattfindet." Denn so unglaublich es klingt: Fast jede Sekunde verpassen wir etwas, was unsere Augen eigentlich sehen – oder sehen etwas, was es in der Realität gar nicht gibt. Scheinbares Flimmern auf heißem Asphalt, die Sonne, die beim Untergehen um ein Vielfaches größer wirkt, oder ein Bilderrahmen, der je nach Perspektive gerade oder schräg aufgehängt scheint – nicht nur bei Zaubershows, sondern auch im Alltag trickst uns die Wahrnehmung ständig aus. Und das, obwohl sich unser Gehirn in diesen Momenten im normalen Aktivitätsmodus befindet. Sobald dieser Modus verlassen wird, wie beispielsweise unter Drogeneinfluss oder bei Schlafentzug, wird der Effekt der Täuschung sogar noch potenziert.

Warum schaltet unser Gehirn Sehzellen ab, um etwas zu sehen?

Framing nennen Neurologen das Wahrnehmungsphänomen, bei dem das Gehirn die Realität ausblendet. Aber was bedeutet Framing überhaupt? Was genau passiert dabei im Gehirn? „Unser Wahrnehmungszentrum produziert ununterbrochen sogenannte Rahmen (engl.: frames). Das bedeutet, es ordnet das Gesehene nach bestimmten Prioritäten", erklärt Macknik, der am Barrow Neurological Institute in Phoenix seit zwei Jahrzehnten verschiedene Arten von Wahrnehmungstäuschungen untersucht. Laute Geräusche erhalten mehr Aufmerksamkeit als leise, schnelle Bewegungen werden eher registriert als langsame, größere Objekte eher als kleinere. Dadurch entstehen unterschiedlich große Sichtrahmen, von denen nur der spektakulärste wirklich wahrgenommen wird. Der Prozess ist seit Kurzem sogar neurologisch durch Magnetresonanztomografen nachweisbar: „Sobald etwas unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, werden bestimmte Nervenzellen im Sehzentrum aktiviert. Um möglichst viel elektrische Aktivität zur Informationsverarbeitung zur Verfügung zu haben, werden die umliegenden Zellen, die für das angrenzende Sichtfeld und die kleineren Rahmen zuständig sind, abgeschaltet", erläutert Macknik.

Sehen wir jeden Augenblick nur eine Simulation unseres Lebens?

Frau trinkt ein Glas Wasser
Wenn wir sehen, dass unser Gegenüber Wasser trinkt, verrät uns die automatische Prognose unseres Gehirns: Der andere hat Durst Foto: Fotolia

Ein weiteres Phänomen der Wahrnehmungstäuschung ist der sogenannte Memory-Effekt: Hierbei spielen vor allem die Spiegelneuronen in unserem Gehirn eine große Rolle. Diese Nervenzellen sind für unser Mitgefühl und Vorstellungsvermögen zuständig. Das bedeutet: Sobald wir sehen, dass unser Gegenüber ein Wasserglas zum Mund führt, rechnen diese Zellen die gesehenen Bilder in logische Inhalte um: Der andere ist durstig, deshalb trinkt er jetzt etwas. Diese unbewusste Schlussfolgerung haben wir jedoch nicht wirklich gesehen. Vielmehr ist sie eine Simulation. Eine Art automatische Prognose unseres Gehirns, die sich aus Erfahrungen und Erinnerungen (engl.: memories) zusammensetzt. Wir erinnern uns daran, wie die Dinge immer ausgesehen haben, und rekonstruieren so die Norm. Das erklärt auch, warum Kinder weniger anfällig für Illusionen sind: Sie schauen genauer hin, und ihr Gehirn hat noch kein so großes Repertoire an Vergleichsmöglichkeiten. Ob das Gegenüber letztendlich jedoch wirklich einen Schluck trinkt oder stattdessen etwas von der Hand am Glas in den Mund führt, können wir nicht sehen. Dafür ist die Simulation unserer Spiegelneuronen zu real.

Die Folge dieses „blinden Vertrauens“ der Sinne? Dadurch, dass unser Gehirn nur die Teile der Informationen nutzt, die sich mit den vorigen Erfahrungen verarbeiten lassen, und gleichzeitig die abweichenden ignoriert, trickst es sich selbst aus. „Was wir wahrnehmen, ist daher nur ein selbst konstruiertes Modell der Welt, in der wir leben – ein Modell, in dem überlebenswichtige Eigenschaften mehr oder weniger realitätsnah abgebildet werden", sagt der Psychophysiker Rainer Wolf. Tatsächlich liefert das menschliche Auge 14 bis 16 Bilder pro Sekunde. Das Gehirn kann aber nur einen Bruchteil dieser Bilder verarbeiten, die meisten davon auch nur unterbewusst. Das bedeutet, dass wir nur einen Teil dessen, was wir sehen, überhaupt bewusst registrieren. Der eigentliche Schwachpunkt beim Sehen ist daher nicht das Auge, sondern das Gehirn. "Auch wenn unser Sehsinn 80 Prozent der für die Sinneswahrnehmung beanspruchten Gehirnkapazität belegt, stößt unser Denkapparat beim Sehen an die Grenzen der Informationsverarbeitung", sagt Macknik.

Nervenzellen, die den Fokus der Wahrnehmung manipulieren, Spiegelneuronen, die unsere visuelle Zukunft simulieren – das Gehirn greift in unzählige Prozesse des Sehens ein. Laut dem Psychologen Richard Gregory von der University of Bristol ist das jedoch gut so: „Auch wenn uns das Gehirn jeden Augenblick Streiche bei der Wahrnehmung spielt – ohne diese Täuschungen könnten wir nicht überleben ..."

Verhindert unser Gehirn, dass wir jeden Moment wie ein Betrunkener erleben?

Sähen wir nur das Bild, das die Augen an das Gehirn weiterleiten, wäre die Welt um uns herum nicht nur extrem unscharf, sondern auch verdammt klein. Das hat gleich mehrere Gründe: Zunächst sehen wir Licht gewöhnlich nur zwischen 400 und 800 Nanometern Wellenlänge. Alle anderen Lichtbereiche, wie beispielsweise Infrarot- und Ultraviolettstrahlung, sind für den Menschen unsichtbar. Ein weiteres Defizit unseres Sehsinns: Die Qualität des Netzhautbildes ist geradezu erbärmlich. Es strotzt vor Abbildungsfehlern. Folge: Nur ein stecknadelgroßer Teil unseres Auges, der sogenannte Gelbe Fleck, sieht wirklich scharf. „Betrachten Sie beispielsweise eine Person aus einer Entfernung von einer Armlänge, gibt Ihnen der Gelbe Fleck einen detailreichen Bereich von der Größe eines 2-Cent-Stücks wieder", sagt der japanische Psychologie-Professor Akiyoshi Kitaoka.

Aber warum scheinen wir dann die Welt dennoch so deutlich, detailreich und scharf wahrzunehmen? Unsere neuronale Bildbearbeitung beginnt bereits in der Netzhaut. Tatsächlich gehört diese strenggenommen zur Großhirnrinde und hat sich erst im Laufe der Evolution „nach vorne geschoben". Die Netzhaut ist eine Art Filter und entscheidet, welche optischen Informationen an das Gehirn weitergegeben werden. Zudem fasst sie diese zu größeren „Bilddateien" zusammen. Dementsprechend stehen den 125 Millionen Lichtsinneszellen nur eine Million Sehnerven als Daten-Highways zum Gehirn zur Verfügung. Dort angekommen, beginnt die Arbeit der Wahrnehmungszellen. Unsere Neuronen gleichen alle aufgenommenen Ungenauigkeiten und Unschärfen unseres Netzhautbildes mit verschiedenen Mechanismen aus. Dabei fassen sie sogenannte Sakkaden, also schnelle automatische Augenbewegungen, zusammen und rechnen sie zu einem Bild um. Im Durchschnitt vollziehen unsere Augen pro Sekunde zwei bis drei Sakkaden, springen durch unser Sichtfeld, ohne dass wir es überhaupt bemerken, und fangen jedes Mal die Einzelheiten eines anderen Bereichs ein. „Die Neuronen unseres Wahrnehmungszentrums setzen diese 2-Cent-großen Bilder dann zu einem nahtlosen Ganzen zusammen. Übrigens: Sobald ein Mensch stark betrunken ist, verlangsamen sich die Sakkaden. Dann beginnt er, die Welt so zu sehen, wie seine Augen sie tatsächlich wahrnehmen – verschwommen und konfus. Wie wichtig bestimmte Hirnzellen beim Sehen sind und wie vergleichsweise vernachlässigbar unsere Augen bei der Wahrnehmung, dokumentierten jetzt die Hirnscans von einem blinden Maler. Farben, Formen, räumliche Dimensionen – die Gemälde von Esref Armagan sind exakte Abbildungen der Wirklichkeit. Dabei sieht der 56-Jährige nur durch seine Finger. Wie das geht? Sobald der Künstler tastet und malt, sind bei ihm nicht nur die Hirnregionen aktiv, die für das Tastempfinden der Finger verantwortlich sind. In seinem Gehirn leuchten im Hirnscan vor allem jene Bereiche auf, die eigentlich für das Sehen zuständig sind. „Alle Untersuchungen deuten darauf hin, dass er, auch wenn er seine Bilder nicht betrachten kann, sie vom Gehirn aus sehen kann", so das Fazit der Forscher. Das Gehirn eines Menschen kann also selbst dann visuelle Informationen aufnehmen, wenn das eigentliche Sehzentrum nicht funktioniert. So sehr uns das Gehirn manchmal beim Sehen auch täuscht – so sehr brauchen wir es, um überhaupt etwas zu erkennen: von einer Welt, die mehr als sieben Milliarden Welten darstellt. Für jeden Menschen eine.