Ich lag sechs Wochen im Koma

Sandra (25) aus Osnabrück erzählt bei Praxisvita, welche Folgen eine massive Hirn-Verletzung bei ihr hatte und wie Sie danach wieder auf die Beine gekommen ist.
Sandra war glücklich. Sie war auf dem Weg zu ihrer Abschlussprüfung an der Berufsschule in Osnabrück, ihr Vater Manfred wollte sie im Auto dort hinbringen. Doch nach 200 Metern nimmt ihnen ein Raser die Vorfahrt, rammt sie mit Tempo 100 – Sandra und ihr Vater hatten keine Chance. Der Vater erleidet einen Schulterbruch. Seine Tochter erwischt es schlimmer. Die bewusstlose Niedersächsin wird mit dem Rettungshubschrauber in ein Krankenhaus in Quakenbrück geflogen, Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma. Er bestätigt sich. Erst sechs Wochen später erwacht sie aus dem Koma – und ihre Welt liegt in Trümmern. Sie kann den Kopf nicht heben, nicht schlucken, nicht sprechen, ist halbseitig gelähmt. Das war 2007. Eisern kämpfte sie sich zurück ins Leben. Doch die schwere Hirnverletzung hat die einst fröhliche und zielstrebige Frau zur Frührentnerin gemacht. Praxisvita sprach mit Sandra und ihre Mutter über ihr Leben nach dem Unfall.
Mama Maria erinnert sich: „Es waren dramatische Stunden, Tage und Wochen. Wir bangten um das Leben unserer Tochter, doch niemand wagte eine Prognose abzugeben. Sandra hatte ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) dritten Grades mit Einblutungen im Gehirn erlitten. Ich erinnere mich noch, wie ein Retter am Unfallort sagte: „Wenn das Gehirn anschwillt, ist es aus.“ Zum Glück musste man ihren Schädel nicht wegen eines hohen Drucks im Gehirn „entdeckeln“. Aber sie wurde für ein paar Tage in ein künstliches Koma gelegt, war nicht ansprechbar." Als Sandra dann aus dem künstlichen Koma geholt werden sollte, wurde sie nicht wach. Sie war in eine Art eigenes Wachkoma gefallen. Würde sie jemals wieder aufwachen? „Wir redeten auf sie ein, hielten ihre Hand. Aber es kam nichts zurück. Als dann auch noch ein Arzt am Krankenbett erklärte: „Da ist nichts, da kommt auch nichts an!“, konnte ich es nicht glauben." Doch das kleine Wunder geschah. Nach sechs Wochen im Koma wachte Sandra wenig später auf. Sie ist schwer gezeichnet, aber endlich wieder bei Bewusstsein. In einem Krankenbericht heißt es: „Frau Pohl ist wach, nicht orientiert, bedingt adäquat und noch eingeschränkt kooperativ." Ihre Mutter: „Wir hatten keine Vorstellung davon, wie es mit Sandra weitergehen würde. Wir gaben die Hoffnung niemals auf, aber ihr Zustand war traurig." Aber Sandra weiß, was sie will – wieder selbstständig leben. Sie muss sprechen, essen, laufen lernen – und sie kämpft. Neun Monate bleibt sie in einer Reha in Geesthacht bei Hamburg, macht gute Fortschritte. Danach wiederholt sie ihre Prüfungen zur pharmazeutisch-technischen Assistentin. Sie macht ein Praktikum in einer Apotheke, möchte Ökotrophologie (Ernährungswissenschaften) studieren und wird sogar angenommen. Das Leben geht wieder bergauf, so hat es den Anschein. Dann lernt sie auch noch Sven, den Tischler, kennen. Sie verlieben sich. Er zu Praxisvita: „Ich sehe Alexandras Behinderungen nicht. Sie ist für mich eine ganz normale Frau, auch wenn eben vieles etwas langsamer geht." 2011 beginnt Sandra ihr Studium. Alles könnte so schön sein. Doch dann zeigen sich die Folgen des Schädel-Hirn-Traumas. Waren die Lernstoffe zu ihrer PTA-Ausbildung noch im Kopf, so gelingt es ihr kaum noch, das Gehirn mit neuen Stoffen zu füllen. Sie kann nicht mehr lernen, der Kopf nimmt komplexe Stoffe nicht mehr auf, die Kopfschmerzen werden schlimmer. Nach drei Semestern ist Schluss. Zeitgleich läuft über die Berufsgenossenschaft ihre Berentung. Mit 25 Jahren ist Sandra Frührentnerin ...
Die Folgen des Unfalls sind gravierend, haben Alexandras Leben aus der Bahn geworfen. „Mein Tagesablauf bedeutet Stress", erklärt sie mit stockender Stimme. „Ich brauche Sport und Ergotherapien, um beweglich zu bleiben. Dazu kommen abwechselnd Arztbesuche beim Urologen, Neurologen und Psychologen. Bei mir geht alles sehr langsam. Meine Feinmotorik ist gestört, ich bin links beeinträchtigt. Eine weitere Komplikation: Durch meinen veränderten Gang habe ich eine schiefe Körperhaltung und damit Probleme mit der Hüfte. Da ich nur rechts am Stock gehen kann, werden mein rechter Arm und meine rechte Hand überanstrengt. Wenn ich Pech habe, sitze ich bald im Rollstuhl, weil ich rechts die Krücke nicht mehr halten kann." So kann eine einzige Sekunde das Leben für immer verändern. „Aber ich bin froh, dass ich meinen Traummann Sven an meiner Seite habe. Ich habe ihn nicht gesucht, aber gefunden", sagt Sandra – und lacht.
Keine Folge-Schäden sind selten
Was der Facharzt Dr. med. Johannes Lemcke, Klinik für Neurochirurgie, Unfallkrankenhaus Berlin zu diesem Fall sagt:
Worin liegen die Tücken bei einem Schädel-Hirn-Trauma?
Anders als zum Beispiel bei Bauchorganen kann man das Gehirn nicht betasten, fühlen und von außen untersuchen. Die knöcherne Schädelkapsel begrenzt zudem Größe und Volumen des Hirns. Bei einer Schwellung würde sich das Gehirn in der Hirnschale selbst zerdrücken und zerstören.
Warum ist es so schwierig, den Verlauf beim Schädel-Hirn-Trauma vorherzusehen?
Schon kleinste Unterbrechungen in den Nervenfortsätzen reichen aus, um Funktionsstörungen hervorzurufen. Doch jedes Gehirn ist individuell. Bei einem Menschen sitzt das Sprachareal links, beim anderen rechts. Deshalb lassen sich aus einem Verletzungsmuster nur ungefähre Folgen ableiten.
Welche Folgeschäden können Schädel-Hirn-Traumata auslösen?
Im Prinzip kann alles, was das Gehirn leistet, eingeschränkt sein. Atmung und Herzschlag können nicht mehr richtig gesteuert werden. Es können Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen oder Sehschäden die Folge sein. Spätschäden zeigen sich oft erst im Alltag. Man kann keine parallelen Tätigkeiten mehr ausüben, ist schnell erschöpft, kann statt acht nur noch vier Stunden arbeiten und ist zu keinen höheren Geistesleistungen (Schule, Studium, Beruf) mehr fähig. Man kann in ein permanentes Wachkoma fallen, aber auch wieder genesen. Es ist jedoch selten, dass keine Folgeschäden bleiben.