Gezielte Corona-Infektion: Knapp 30.000 Freiwillige bereit für Impfstoff-Studie
Könnte eine Studie, in der sich Freiwillige gezielt mit dem Coronavirus infizieren lassen, den Durchbruch bei der Suche nach einem Impfstoff gegen SARS-CoV-2 sein? Über 28.800 Menschen denken das und unterstützen die Kampagne "1Day Sooner".
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Weltweit wird aktuell fieberhaft an einem Corona-Impfstoff geforscht. 139 Pharmafirmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen sind auf der Suche nach einem Wirkstoff, der SARS-CoV-2 aushebelt. Die Kampagne "1Day Sooner" will den langwierigen Prozess klinischer Studien beschleunigen, indem alle teilnehmenden Probanden bewusst mit SARS-CoV-2 in Kontakt gebracht werden. Während Menschen versuchen, über Social Distancing beziehungsweise Smart Distancing eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu verhindern, scheint es Irrsinn, dass sich bis Ende Juni knapp 30.000 Menschen bei "1Day Sooner" registriert haben und bereit sind, gezielt an COVID-19 zu erkranken.
Ein Impfstoff – aber zeitnah!
Laut der Johns Hopkins University sind aktuell 8.351.428 Menschen an COVID-19 erkrankt und bisher 449.229 gestorben. In Deutschland zählt das Robert Koch-Institut 187.764 laborbestätigte COVID-19-Fälle und 8.856 Tote (Stand 18. Juni).
Kopf der Kampagne "1Day Sooner" ist der US-amerikanische Harvard-Doktorand Chris Bakerlee. Er und sein Team haben ein klar definiertes Ziel: die schnelle Entwicklung eines Corona-Impfstoffs.
Anstoß der Kampagne ist die Tatsache, dass reguläre klinische Studien Monate Zeit in Anspruch nehmen, die Welt aber jetzt auf einen Impfstoff für SARS-CoV-2 wartet. Auf ihrer Homepage erklären die Initiatoren von "1Day Sooner", wie ihre Freiwilligen-Studie die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs beschleunigen soll.
Zunächst würde alles so ablaufen, wie in klassischen klinischen Studien, in denen ein Wirkstoff gegen einen bestimmten Erreger auf seine Wirksamkeit und seine Verträglichkeit getestet wird. In drei Phasen untersuchen Wissenschaftler dabei immer mehr Testpersonen. In Phase 1 sind es in der Regel unter 100 Probanden, die an der Studie teilnehmen. Ein Teil dieser Gruppe bekommt den Wirkstoff verabreicht, der andere erhält ein Placebo oder eine Standardtherapie. In Phase 2 werden um die 300 Personen untersucht. Liefert dieser Studienabschnitt positive Ergebnisse, können an Phase 3 tausende Menschen teilnehmen.
Im Endteil der Phase 3 möchte "1Day Sooner" einen neuen Weg gehen und alle Probanden gezielt mit SARS-CoV-2 in Kontakt bringen. In der Regel ist es so, dass man in Phase 3 überprüft, welcher der Probanden sich nach dem Verabreichen des Wirkstoffs oder des Placebos/der Standardtherapie auf natürlichem Wege mit einem Erreger infiziert. Bringt man sowohl die geimpften Probanden als auch die, die ein Placebo erhalten haben, in gezielten Kontakt mit dem Erreger, würde der Beobachtungszeitraum um Wochen verkürzt und man brauche weniger Freiwillige, betonen Dr. Chris Bakerlee und sein Team.
Tausende Freiwillige für Impfstoff-Studie
Trotz der weltweiten Angst vor COVID-19 meldete sich eine überwältigende Anzahl an Menschen bei "1Day Sooner": Am 18. Juni zeigte der Online-Zählstand 28.813 Freiwillige aus 102 Ländern.
Aktuell ist die Studie nicht genehmigt, die Freiwilligen können sich also noch entspannt zurücklehnen. Ob "1Day Sooner" überhaupt anläuft, ist fraglich.
Eine Frage der Ethik – vor allem in Deutschland
In Deutschland sind Human Challenge Trails (HCT), so der englische Fachbegriff, nicht gern gesehen. Dabei laufen auch hierzulande bereits die ersten Corona-Impfstoff-Tests an Menschen. Gerade erst wurde der Tübinger Firma CureVac die Erlaubnis erteilt, den von ihnen entwickelten Impfstoff-Kandidaten in einer klinischen Studie an Menschen zu testen. Dafür werden in Phase 3 tausende Freiwillige gebraucht – es ist aber mehr als unwahrscheinlich, dass diese aus den Kandidaten der "1Day Sooner"-Kampagne ausgesucht werden.
Denn hinter so einer Genehmigung steht die Frage, ob es moralisch vertretbar ist, Tausende Freiwillige gezielt mit dem Coronavirus zu infizieren – und damit zu riskieren, dass einige von ihnen sterben.
Human Challenge Trials fanden in der Vergangenheit zwar schon mit anderen Erregern statt, beispielsweise mit Cholera, Zika oder Malaria, sind aber umstritten. Joerg Hasford, Vorsitzender des deutschen Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen, erklärte im Mai der "dpa", warum es Human Challenge Trials in Deutschland in den jüngsten Jahrzehnten nicht gegeben hat: "So eine Challenge-Studie wäre eine absolute Ausnahme, weil wir in Deutschland nach den Erfahrungen des Dritten Reichs sehr, sehr hohe ethische und auch rechtliche Standards haben." Unter Adolf Hitler hatten Nationalsozialisten unmenschliche Experimente an KZ-Inhaftierten durchgeführt.
Um hierzulande eine HCT anlaufen zu lassen, müssten das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und eine Ethikkommission zustimmen. PEI-Präsident Klaus Cichutek signalisierte vor Monaten allerdings bereits, dass das Thema nicht anstehe: "Es gibt eine gewisse fachliche Diskussion zu sogenannten Human Challenge Trials. Das können wir vielleicht später noch einmal abhandeln. Aber das ist nicht der Trend."
Erst ein Medikament, dann ein Impfstoff
Für Joerg Hasford würde sich die Situation erst ändern, wenn es vor einer Human Challenge Trial ein Medikament gebe, das den Krankheitsverlauf von COVID-19 deutlich mildern würde. Erst dann könnten Freiwillige mit dem Coronavirus infiziert, aber nicht in Lebensgefahr gebracht werden.
"In dem Augenblick, in dem wir zum Beispiel eine sehr wirksame Therapie hätten, wäre das natürlich ethisch vergleichsweise leicht zu vertreten", sagte der Mediziner. "Wenn sich also zum Beispiel zeigt, dass man mit [dem Ebola-Medikament] Remdesivir eine sehr gute, wirksame Therapie hätte für schwerste Verläufe und man nähme Probanden, die definitiv nicht zur Risikogruppe gehören, dann könnte ich mir vorstellen, dass man sowas auch in Deutschland macht."
Quellen:
1Day Sooner – COVID-19 Human Challenge Trials, in: 1daysooner.org
Challenge-Studien: Gezielte Corona-Infektion für die Forschung?, in: apotheken-umschau.de
COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), in: coronavirus.jhu.edu
Robert Koch-Institut: COVID-19-Dashboard, in: experience.arcgis.com
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