Ganser-Syndrom: Krankhaftes Falsch-Antworten
Falsche Antworten und Lösungen für die einfachsten Aufgaben bei fester Überzeugung, recht zu haben. Lange waren sich Psychiater uneins, ob es sich dabei um ein echtes Krankheitsbild handelt, oder nur um jugendliche Schlitzohrigkeit. Was verbirgt sich wirklich hinter dem Ganser-Syndrom?

Ein Fallbeispiel
Auf die einfache Frage “5+1=?” antwortet der Patient “7”. Bei Wiederholung der Frage korrigiert er sich – und sagt “4”. Das Spiel kann in klinischen Tests bis ins Unendliche gespielt werden.
Auf “Haben Sie einen Mund?” wird mit “Ich weiß nicht” geantwortet. Bei “Wie viele Beine hat ein Hund?”, heißt es “Drei”. Und wenn nach dem Namen gefragt wird, kommt ein falscher als Antwort. Einige Patienten mit dem Ganser-Syndrom sind zudem – zumindest zeitweise – nicht in der Lage, von 1 bis 5 zu zählen oder geben an, nicht lesen und schreiben zu können.
Häufigkeit des Ganser-Syndroms
Erstmals beschrieb der deutsche Psychiater Sigbert Josef Maria Ganser im Jahr 1897 die psychische Störung. Er hatte sie bei Patienten der Gefängnispsychiatrie beobachtet und dokumentiert. Seither wurden etwa 140 Fälle festgehalten – nur etwa 50 davon sind aber nach heutigen Maßstäben verwertbar. Es handelt sich also um eine äußerst seltene Erkrankung.
Die meist männlichen Patienten (der insgesamt 140 belegten Fälle seit der ersten Beschreibung 1897) mit Ganser-Syndrom sind laut dem Psychiater Prof. Dr. med. Volker Faust durchschnittlich 33,2 Jahre alt, wobei der jüngste Patient acht, der älteste dokumentierte 76 Jahre alt war. Bei Kindern kommt das Krankheitsbild generell äußerst selten vor. Nur etwa ein bis zwei Prozent der bekannten Fälle waren Kinder.
Symptome des Ganser-Syndroms
Ein Syndrom beschreibt immer ein gemeinsames Auftreten bestimmter charakteristischer Symptome innerhalb eines gekennzeichneten Krankheitsbildes. Das Ganser-Syndrom gilt als seltenes psychiatrisches Störungsbild, ist diagnostisch jedoch schwer einzuordnen.
Daher wird es nicht als "eigenständiges Krankheitsbild" angesehen: Eindeutig falsche Antworten auf die einfachsten Fragen und klar falsche Handlungsabläufe sind dabei aber immer ein zentrales Merkmal der Erkrankung. Die Betroffenen weisen Anzeichen auf, die ein Laie möglicherweise schnell mit gespielter Dummheit verbinden würde.
Ganser-Syndrom als Begleiterscheinung
Immer wieder tritt das Phänomen als Begleiterscheinung von anderen dissoziativen Erkrankungen auf, wie etwa:
- Wahrnehmungsstörungen wie Beeinträchtigung der Merkfähigkeit und amnestische Symptome (Erinnerungslosigkeit)
- vorübergehende Lähmungen
- psychisch bedingte Kopfschmerzen oder das genaue Gegenteil - Schmerzlosigkeit
- Störungen der Geschmacks- oder Geruchsempfindung
Meist sind die Symptome nur von relativ kurzer Dauer – von einer Stunde bis hin zu wenigen Tagen. Danach antworten die Betroffenen wieder normal und richtig auf die gleichen Fragen, wirken wieder vollkommen klar.
Nicht selten sind sie selbst verwundert über ihren vorherigen Geisteszustand und zeigen sich teils sogar empört darüber, dass sie vorher derart falsch lagen. Es liegt also eine kurzzeitige Amnesie vor – ein Nicht-Erinnern an die betreffende Phase.
Mögliche Ursachen des Syndroms
Anfangs nahm man an, das Verhalten sei Ausdruck der Vortäuschung von geistiger Verwirrtheit, um einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit zu simulieren (bei Angeklagten und Häftlingen). Mittlerweile geht man davon aus, dass dem Ganser-Syndrom eine traumatische Erfahrung oder zumindest eine erhebliche seelische Belastung zugrunde liegt.
In vielen Fällen befinden sich die Betroffenen in einer für sie ausweglos erscheinenden Situation. Sie fühlen sich einem Zustand ausgeliefert, den sie scheinbar nicht kontrollieren können.
Unter diesen Anzeichen zählt das Ganser-Syndrom zu den posttraumatischen Belastungsstörungen. “Psychodynamisch wird es heute am ehesten als eine ‘dicht unter der Bewusstseinsschwelle ablaufende Wunsch- und Zweckreaktion’ gedeutet, so Professor Faust in einer Abhandlung über das Syndrom.
Doch es gibt offenbar auch einen Zusammenhang zwischen dem “Vorbei-Antworten” und messbaren physischen Verletzungen des Körpers – im Gegensatz zu seelischen Schäden. So ist ein Fall belegt, bei dem eine Patientin mit einem Schlaganfall und darauf folgenden Hirnfunktionsstörungen Symptome des Ganser-Syndroms aufwies.
Generell kann das Ganser-Syndrom als Begleiterscheinung einer oder mehrerer dieser Erkrankungen auftauchen – dies sollte bei der Diagnose beachtet werden:
- Schizophrenie
- Schädel-Hirn-Trauma
- Schlaganfall
- Hirnblutungen
- andere neurologische Erkrankungen
- Hirntumore
- Drogen- oder Alkoholmissbrauch
- Demenz
- Depressive Pseudodemenz
- Delir (meist vorübergehender Verwirrtheitszustand)
- Downsyndrom
Behandlung des Ganser-Syndroms
Da nach wie vor keine erwiesenen oder repräsentativ belegbaren Ursachen feststellbar sind und das Ganser-Syndrom in vielen Fällen nach kurzer Zeit wieder verschwindet, ist auch die Behandlung schwierig.
Liegt die Vermutung aber nahe, dass es sich bei dem klinischen Verhaltensmuster nicht um eine gewollte Täuschung, sondern tatsächlich um das Ganser-Syndrom handeln könnte, kann Verhaltenstherapie durch eine psychiatrische Betreuung eine Verbesserung des Zustands bewirken. Sind die Unruhezustände zu stark, ist eine Gabe des Beruhigungsmittels Lorazepam möglich.
Quellen:
- Das Ganser-Syndrom, in: psychosoziale-gesundheit.net
- Psychopathologie des Ganser-Syndroms, in: springermedizin.de