Fremdeln: Warum verhält sich mein Baby so eigenartig?
Fremdeln ist eine Phase in der sozialen Entwicklung von Kindern – meist beginnt sie, wenn das Baby mobil wird. Welchen Sinn macht die Fremdelphase und wie sollten Eltern mit ihrem fremdelnden Kind umgehen?

Das Fremdeln kommt oft plötzlich: Gestern noch hat der Sprössling fröhlich lachend die Arme nach allen Menschen ausgestreckt und dabei nicht zwischen Familienangehörigen und völlig Fremden unterschieden. Heute zeigt sich den geschockten Eltern ein ganz anderes Bild: Die weitgereiste Oma freut sich über ein Wiedersehen mit dem Enkel und möchte ihn glücklich in die Arme schließen – doch anstatt die Zuneigung zu erwidern, fängt dieser lauthals an zu schreien, wendet sich weg von der Oma und streckt verzweifelt die Arme nach seiner Mutter aus.
Die Phase, die jetzt beginnt, kann für die Eltern richtig anstrengend werden. Zum einen gestaltet sich der Alltag schwieriger, wenn die Mutter sich nicht mehr aus dem Blickfeld des Babys bewegen kann, ohne dass es verzweifelt zu weinen beginnt. Zum anderen fühlen sich andere Menschen häufig von dem Fremdeln des Nachwuchses vor den Kopf gestoßen. Das können freundliche Mitfahrer im Bus sein, die mit dem Baby Kontakt aufnehmen wollen – aber auch Angehörige, die sich auf das Wiedersehen mit dem Kind gefreut haben.
Wann fremdeln Babys?
Das Fremdeln beginnt bei den meisten Babys im Alter von fünf bis sechs Monaten, bei einigen aber auch schon früher. Im achten Lebensmonat erreicht es häufig seinen Höhepunkt – die Entwicklungsphase wird darum auch als „Achtmonatsangst“ bezeichnet. In dieser Zeit lässt sich das Baby häufig ausschließlich von seiner engsten Bezugsperson beruhigen. Zwischen dem 15. und 18. Monat lässt die Angst vor Fremden in der Regel nach – viele Kinder fremdeln allerdings bis Mitte des dritten Lebensjahres.
Fremdeln mit unterschiedlicher Ausprägung
Fast alle Babys fremdeln – allerdings kann die Ablehnung gegenüber Fremden je nach soziokulturellem Hintergrund und Persönlichkeit des Kindes unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Schüchterne, zurückhaltende Kinder fremdeln meist länger und intensiver als offene, draufgängerische Babys. Kinder, die in einer Großfamilie oder einer anderen großen Gruppe aufwachsen, fremdeln entsprechend weniger als Kinder mit wenigen engen Bezugspersonen.
Während einige Babys es ablehnen, von Fremden auf den Arm genommen zu werden, sonst aber den Kontakt mit ihnen nicht scheuen, beginnen andere bereits zu weinen, wenn eine andere Person als ihre Mutter sie länger ansieht. Wieder andere Babys fremdeln so schwach, dass selbst die Eltern die „Fremdel-Signale“ kaum bemerken. Die meisten Kinder fremdeln gegenüber Männern stärker als gegenüber Frauen.
Welchen Sinn macht Fremdeln?
Das Fremdeln liegt nicht etwa darin begründet, dass das Baby plötzlich zwischen fremden und vertrauten Menschen unterscheiden kann. Bereits in den ersten Lebenswochen kann das Neugeborene seine Bezugspersonen am Geruch erkennen, ab dem dritten Monat auch am Gesicht. Wenn die Fremdelphase beginnt, können die Kleinen also schon lange zwischen ihren Eltern und anderen Personen unterscheiden.
Aus evolulutionsbiologischer Sicht lässt sich das Fremdeln vielmehr folgendermaßen erklären: Als Kinder in der Steinzeit mit fünf bis acht Monaten mobil wurden, also zu robben oder krabbeln begannen, waren sie plötzlich ganz neuen Gefahren ausgesetzt. Befanden sie sich zuvor immer in der schützenden Nähe der Mutter, konnten sie sich plötzlich von ihr wegbewegen – direkt in die Fänge eines gefährlichen Tieres oder eben in die Arme eines unbekannten Menschen, der möglicherweise böse Absichten hatte. Die Angst vor Fremden bewahrte das Baby davor, sich zu weit von der Mutter zu entfernen und sich so in Gefahr zu bewegen.
Ob diese Angst heute noch Sinn macht, ist für das Baby nicht relevant: Sie ist tief in ihm verwurzelt und Eltern können nichts tun, um das Fremdeln zu verhindern.
Sichere Bindung: Fremdeln ist ein gutes Zeichen
Damit können sich Eltern auch guten Gewissens von allen Vorwürfen lossagen, mit denen sie eventuell in ihrem Umfeld konfrontiert werden: Dass ihr Kind fremdelt, liegt keinesfalls daran, dass sie etwas in ihrer Erziehung falsch gemacht haben. Sie haben es weder verhätschelt noch isoliert oder traumatisiert und das Fremdeln ist kein Anzeichen dafür, dass ihr Kind später nicht gesellschaftsfähig sein wird. Das Fremdeln ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass sie vieles richtig gemacht haben: Offenbar hat ihr Kind eine enge und unerschütterliche Bindung zu ihnen – und das ist der beste Grundstein für eine gesunde psychosoziale Entwicklung.
Wie soll ich mit meinem fremdelnden Kind umgehen?
Ein Kind, das beim Anblick eines fremden Menschen zu weinen beginnt, hat tatsächlich Angst – und die Ängste ihrer Kinder sollten Eltern immer ernst nehmen. Spielen sie sie herunter oder machen sich gar darüber lustig, schwindet die Angst nicht, aber das Kind hat zusätzlich noch das Gefühl, dass seine Gefühle falsch oder nicht erwünscht sind.
Stattdessen sollten die Eltern die Bedürfnisse ihres Babys respektieren, es auf den Arm nehmen und die andere Person gegebenenfalls bitten, etwas Abstand zu wahren und dem Kind Zeit zu geben, bis es selbst zur Kontaktaufnahme bereit ist.
Bei vielen Kindern dauert das gar nicht lange: Vom Arm der Mutter oder des Vaters aus betrachten sie den neuen Menschen neugierig und wagen schon mal einen „Flirt“ aus sicherer Entfernung. Einige Babys sind allerdings über viele Monate lang nicht bereit, sich von einer anderen Person als ihren Eltern auf den Arm nehmen zu lassen; und auch das sollten alle Beteiligten respektieren. Auch wenn das den Großeltern, Tanten und Onkeln schwerfällt – irgendwann werden sie damit belohnt, dass das Kind von alleine auf sie zukommt.
Wenn Babys bei Papa fremdeln
Viele Babys fremdeln sogar beim eigenen Vater, was für diesen extrem schmerzhaft sein kann. Hat er seinen Nachwuchs bisher immer gewickelt, gefüttert und mit ihm gekuschelt, verweigert das Baby plötzlich jeden Körperkontakt mit ihm und schreit hysterisch, wenn er es auf den Arm nehmen will.
Das ist für beide Eltern schwierig: Während der Vater tief verletzt ist, ist die Mutter völlig überlastet. Natürlich ist der Vater für das Baby keine fremde Person. Doch viele Babys möchten die gesamte Fremdelphase am liebsten auf dem Arm ihrer engsten Bezugsperson verbringen – und das ist häufig (nicht immer) die Mutter. Stillt sie das Neugeborene, speichert dieses gleich zu Beginn seines Lebens ab: Diese Person versorgt mich mit Nahrung, Schutz und Liebe – also allem, was ich zum Leben brauche. Damit ist sie Bezugsperson Nummer eins. Konzentriert sich das Baby in seiner Fremdelphase ganz auf diese wichtigste Person, hat der Vater als Bezugsperson Nummer zwei häufig das Nachsehen.
Vom eigenen Baby lautstark abgewiesen zu werden, bricht so manchem treusorgenden Vater das Herz. Dennoch bleibt ihm auch in diesem Fall nichts anderes übrig, als die Bedürfnisse seines Kindes zu respektieren. Er sollte darum Abstand wahren, sich aber nicht ganz zurückziehen. Möchte das Baby nicht mehr von ihm gewickelt werden, sollte das die Mutter übernehmen – der Vater kann aber dabei stehenbleiben und zeigen, dass er seinem Kind gegenüber trotz allem wohlgesonnen ist. So verletzt er auch sein mag, sollte er nicht ganz auf Distanz gehen – das Kind könnte durch die Ablehnung von seiner Seite verunsichert werden, wodurch sich die schwierige Phase in der Vater-Kind-Beziehung noch verlängern kann. Mütter sollten in dieser Zeit Verständnis für ihren Partner aufbringen und ein offenes Ohr für seine Gefühle und Bedenken haben. Beiden können drei Tatsachen über die schwierige Zeit hinweghelfen:
- Vielen anderen Vätern geht es genauso.
- Der Vater hat keine Schuld an der Situation: Dass sein Kind ihn vorübergehend ablehnt, bedeutet nicht, dass er ein schlechter Vater ist.
- Das Fremdeln wird vorübergehen und Vater und Kind werden sich wieder annähern.
Quellen:
Renz-Polster, Herbert (2014): Kinder verstehen, München: Kösel-Verlag.
Largo, Remo H. (2019): Babyjahre, München: Piper Verlag.