Fehldiagnose: "Der Meniskusschaden war eigentlich Multiple Sklerose"
Symptome übersehen, Röntgenbilder falsch gedeutet, Schmerzen nicht ernst genommen: Es kann fatale Folgen haben, wenn Ärzte sich irren. Eine Fehldiagnose kann das ganze Leben verändern – aber jeder Patient kann sich schützen.
Inga Schmidt hat immer häufiger Knieschmerzen und sogar Schwierigkeiten zu laufen. Die Diagnose lautet: Meniskusschaden. Der Orthopäde verschreibt zunächst Kniebandagen, aber die 51-jährige stürzt immer häufiger. Schließlich rät er zu einer Meniskus-Operation. Aber auch in der Reha dauern die Beschwerden an.
Daraufhin macht ein Neurologe eine MRT-Aufnahme des Schädels und Rückenmarks. Anhand deutlich sichtbarer Entzündungsherde und Vernarbungen im Gehirn kann er schnell eine sichere Diagnose geben: Multiple Sklerose. "Wäre die Krankheit früher erkannt worden, hätte ich mir ein paar Jahre im Rollstuhl sparen können", sagt Inga Schmidt heute.
Und das ist kein tragischer Einzelfall: Durchschnittlich jede siebte Diagnose ist nach Schätzungen des Aktionsbündnisses Patientensicherheit falsch. Fehler, die das Leben von Patienten kosten können und nebenbei das deutsche Gesundheitssystem mit geschätzten 11,7 Mrd. Euro jährlich belasten.
Prof. Dr. Matthias Rothmund, einer der Pioniere auf dem Gebiet der Verbesserung der Patientensicherheit in Deutschland, gehört zu den wenigen Medizinern, die klar aussprechen, woran es liegt: Immer weniger Klinikpersonal muss immer mehr Patienten versorgen. Und das Gehalt vieler Ärzte ist an den wirtschaftlichen Erfolg der Klinik gekoppelt.
Fehldiagnosen durch Profitgier und Zeitnot
Das heißt im Klartext: Je mehr schwierige Fälle eine Klinik behandelt, desto mehr verdient sie und damit auch der Chefarzt. Besonders hoch sind die Einnahmen bei komplizierten Operationen – deshalb wird zuweilen voreilig auch dann operiert, wenn es eigentlich nicht nötig ist.
Prof. Rothmund verurteilt solche Eingriffe scharf als "höchst unethisch". Eine Studie der Techniker Krankenkasse ergab, dass beispielsweise 87 Prozent der Rückeneingriffe überflüssig sind. In manchen Fällen steckt Profitgier dahinter, in anderen wiederum schlichtweg Zeitnot.

Statistiken zeigen, dass ein Arztgespräch durchschnittlich nur etwa acht Minuten dauert. Die Kommunikation findet häufig nicht auf Augenhöhe statt, die Ärzte sind ungeduldig und wollen den Fall schnell abhaken – bei etwa 45 Patientenkontakten pro Tag ist das kaum anders möglich. Die Mediziner lassen die Patienten nicht ausreden, hören bei der Schilderung von Leidensgeschichte und Symptomen nicht richtig zu und urteilen vorschnell.
"Eigentlich sollten Ärzte nur Fragen stellen und zuhören", sagt Prof. Dr. Hartmut Siebert vom Aktionsbündnis Patientensicherheit. "Dass sie dazu neigen, selbst am meisten zu reden, ist eine Unsitte. Unterbrechen Sie Ihren Arzt, fragen Sie nach und scheuen Sie sich nicht, zu sagen, dass Sie etwas nicht verstanden haben."

Aber selbst das kann Fehldiagnosen nicht immer verhindern – wie im Fall von Brigitte Mühlrad (58). Es beginnt damit, dass sie häufiger Harndrang verspürt. Ihre Frauenärztin diagnostiziert eine gewöhnliche Blasenschwäche, die nicht behandelt werden muss. Doch die Symptome nehmen immer mehr zu. Obwohl Brigitte Mühlrad mittlerweile jede Nacht mehrmals aufstehen muss, überweist die Ärztin ihre Patientin nicht an einen Urologen.
Schließlich kommen starke Schmerzen beim Wasserlassen hinzu – die Frauenärztin verordnet Antibiotika. Erst als die Behandlung nicht anschlägt, schickt die Ärztin ihre Patientin zu einem Blasen-Spezialisten. Die Untersuchung zeigt: In dem Organ hat sich ein fünf Zentimeter großer bösartiger Tumor gebildet, der eine aufwändige Operation erfordert. Die Blase muss dabei komplett entfernt werden. Wäre der Tumor früher erkannt worden, hätte sie gerettet werden können.
Werden Sie Ihr eigener Gesundheitsmanager
Um Fehldiagnosen und -behandlungen mit derart katastrophalen Auswirkungen zu verhindern, sollten die Patienten zu ihren eigenen Gesundheitsmanagern werden und ihre Rechte voll ausschöpfen – zum Beispiel, indem sie eine zweite Meinung einholen. Das wird sogar von den Krankenkassen bezahlt. "Wer das Gefühl hat, nicht richtig oder nicht ausreichend behandelt zu werden, sollte unbedingt einen weiteren Arzt konsultieren," rät auch Prof. Siebert.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer Behandlung ist seiner Meinung nach, dass sich zwischen Arzt und Patient ein Vertrauensverhältnis aufbaut. "Ohne diese Grundlage sollten Sie unbedingt den Arzt wechseln," sagt Prof. Siebert. "Denn der Mensch ist eine Einheit aus Körper und Geist – Misstrauen kann die Heilung negativ beeinflussen. Vertrauen Sie unbedingt auf Ihr Bauchgefühl, und wenn das nicht gut ist, wechseln Sie den Arzt."

Interview mit Prof. Dr. Hartmut Siebert
Stellvertretender Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit – APS – e.V. (www.apsev.de)
Wie kann ich meinem Arzt dabei helfen, die richtige Diagnose zu stellen?
Bereiten Sie sich so gut wie möglich auf den Besuch vor: Notieren Sie, ab wann die Beschwerden da waren, ob sie zu bestimmten Tageszeiten oder verstärkt im Zusammenhang mit Mahlzeiten oder körperlicher Betätigung auftreten. Legen Sie langfristig ein Patientenbuch an, in dem Sie alles sammeln, was zu Ihrer Patientenbiografie gehört, und aktualisieren Sie es regelmäßig. Im Notfall ist es sofort zur Hand und enthält wichtige Informationen für den Arzt.
Gibt es Symptome, bei denen das Risiko einer Fehldiagnose besonders hoch ist?
Chronische Schmerzen bergen ein besonders hohes Risiko für Fehldiagnosen. Bei Rückenschmerzen wird zum Beispiel oft ein Bandscheibenvorfall angenommen – dabei kann auch eine Ausweitung der Hauptschlagader im Bauch die Ursache sein. Wird dies nicht erkannt, kann das lebensgefährliche Folgen haben.
In welchen Fällen sollte ich unbedingt eine zweite Meinung einholen?
Sie sollten vor jedem operativen Eingriff eine zweite Meinung einholen. In der Medizin gibt es nicht eine Wahrheit – auch Ärzte können zu unterschiedlichen Bewertungen kommen. Wichtig ist, dass Sie offen mit ihrem Arzt darüber sprechen. Vielleicht kann er Ihnen sogar einen Kollegen empfehlen.
Was kann ich tun, wenn ich Zweifel an der Richtigkeit einer Diagnose habe?
Spielen Sie mit offenen Karten und sprechen Sie Ihre Zweifel an. Haben Sie das Gefühl, dass die Behandlung nicht wirkt, fragen Sie nach Alternativen. Wer die Therapie einfach abbricht, macht es sich selbst schwer - und auch dem nächsten Arzt. Dem fehlen dann wichtige Unterlagen über die Vorbehandlung.