Fehldiagnose ADHS – ein neues Leben für Jonas

Fehldiagnose ADHS ist keine Seltenheit
Nicht alle Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, haben auch wirklich die Erkrankung. Bei Jonas stellte sie sich als Fehldiagnose heraus Foto: Fotolia

Fehldiagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätstörung: Was folgte, waren Förderschule und Kinderpsychiatrie. Gerade noch rechtzeitig wurde Jonas vor einem düsteren Weg bewahrt. Lesen Sie hier die schockierende Geschichte des neunjährigen Jungen.

Mama Nicola* gibt ihrem Sohn ordentlich Schwung an der Schaukel, und Jonas (9) fliegt kichernd durch die Luft. Nicola Lehmann schaut ihm dabei lächelnd zu. Endlich ist Jonas wieder unbeschwerter. Endlich ist wieder Ruhe eingekehrt. Jahre der Verzweiflung liegen hinter der Familie.

„Schon als Kleinkind war Jonas ein zappeliger Quälgeist“, sagt Nicola Lehmann. „Als er in die Kita kam, wurde es immer extremer. Er hielt sich an keine Regeln, haute und biss die anderen. Ich verstand nicht, warum. Zu Hause war er anschmiegsam und kuschelte gern.“

Die Fehldiagnose ADHS und ihre Folgen

Als Jonas in die Schule kam, eskalierte die Situation. Schon nach einer Woche gab es das erste Gespräch mit der Lehrerin. Wieder schlug Jonas seine Mitschüler. Er zerknüllte Hefte, malte Tische an. Er stand im Unterricht auf, schrie „Ich will nach Hause“ und rannte aus der Schule. Nicola Lehmann fühlte sich hilflos und oft auch angegriffen: „Ich hatte das Gefühl, alle gaben mir die Schuld an seinem Benehmen. Dabei taten mein Mann und ich alles, damit er eine glückliche Kindheit hat.“

Die Schule empfahl bald eine Therapie. Jonas kam in eine Tagesklinik. Die Diagnose lautete: Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung. Was Familie Lehmann nicht ahnte: Es war eine Fehldiagnose – was kein Einzelfall ist. Laut einem Bericht der Barmer GEK hat sich die Zahl der ADHS-Kinder um 42 Prozent erhöht. Ärzte fällen oft zu schnell die Diagnose, wenn sie von Lernschwierigkeiten und Aggressivität hören. Auch Jonas drohte ein Opfer der Fehldiagnose ADHS zu werden. Er musste an eine Förderschule wechseln, wo er sich am schlechten Verhalten der anderen orientierte.

In der zweiten Klasse kam er wieder in die Psychiatrie. Diesmal vollstationär. Er wurde mit Pillen vollgepumpt, magerte ab. Dunkle Augenringe stachen aus seinem bleichen Gesicht hervor. Abends, wenn sich seine Mutter verabschiedete, klammerte er sich an sie, weinte: „Mami, bitte geh nicht. Ich hab' dich doch so lieb!“

Was ist ADHS?

Die psychische Störung wird meist in der Kindheit diagnostiziert, wenn Probleme mit der Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität auftreten. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) wird meist mit einer Art Amphetamin, dem Methylphenidat (z. B. in Ritalin) behandelt. Auf diese Weise werden Impulse im Gehirn unterdrückt. Es gibt aber auch therapeutische Ansätze ohne Medikamente, über die der Verein ADHS Deutschland e. V. berät.

ADHS entsteht auch durch frühe Traumata

Nicola versuchte, vor ihrem Sohn stark zu sein, „doch ich weinte auf dem ganzen Heimweg“. Es war ein Zufall, der ihnen half. „Ich entdeckte im Internet, dass SAT.1 Fälle für eine neue Serie suchte. Ich meldete uns an. Wir wurden genommen.“ Die Psychologin besuchte die Familie, beobachtete Jonas und machte viele Tests. Sie sagt: „Ich wurde schnell stutzig, ob die ADHS-Diagnose stimmt. Jonas konnte sich auch lange konzentrieren – wenn er ein Lego-Set zusammenbaute und sorgfältig den Rasen bis auf den letzten Grashalm mähte. Das ist eher untypisch für ADHS.“

Die Expertin bemerkte, dass die Symptome auch zu einem Trauma passen könnten. Ab da fügte sich ein Puzzleteil zum nächsten. „Als Jonas drei Monate war, hatte er eine Lungenentzündung“, sagt Nicola. „In der Klinik bekam er keine Luft mehr, lief blau an, seine Arme hingen leblos herunter. Ich wurde auf den Flur geschickt, während er reanimiert wurde.“ Alles, was für uns Menschen existenziell ist, wie ein Todeskampf, speichert die Psyche ab. „Bei Jonas war nun verankert: Wenn meine Mutter mich verlässt, ist das lebensbedrohlich“, erklärt die Psychologin. „Deshalb erlebte er alle Situationen, in denen er von ihr getrennt war, als extreme Gefahr – der Grund, weshalb er in Kita und Schule regelmäßig ausflippte.“

Mit der Kinderpsychologin erprobten Nicola und Jonas Übungen, die ihn zur Ruhe brachten. Eine ist ein meditativer philippinischer Stockkampf. Die beiden bewegen Bambusstöcke in einer festen Folge. Dadurch ist Jonas Bewusstsein so ausgefüllt, dass seine bisherigen Reaktionen unterbrochen werden. Es sind die ersten Schritte in ein friedlicheres Familienleben. Eine Traumatherapie soll Jonas nun auch helfen, die Erlebnisse zu verarbeiten.

*Name von der Redaktion geändert