"Es ist, als hätte ich einen zweiten Sohn bekommen"

Die Ärzte hatten den leukämiekranken Jungen schon aufgegeben, doch Meikes Knochenmarkspende rettete ihm das Leben. Wie der kleine Benjamin das Herz der Krankenschwester im Sturm eroberte. Ein Rückblick.
Die Welt um Meike Gast* herum verschwimmt. Schrumpft zusammen auf die wenigen Meter, die sie noch von dem kleinen Jungen trennen, der am Ende der Auffahrt zu seinem Elternhaus auf sie wartet. Langsam, wie in Trance, geht sie auf ihn zu. Als sie endlich vor ihm steht, widersteht sie dem Impuls, ihn gleich in die Arme zu schließen. Stattdessen kniet sie sich vor ihn hin, sieht ihm ins Gesicht. „Hallo, ich bin Meike", sagt sie. „Hallo", sagt der Junge. „Ich bin Benjamin." Er lächelt.
Meike kämpft mit den Tränen. So lange hat sie sich gewünscht, Benjamin kennenzulernen. Den Jungen, dem sie vor zwei Jahren Knochenmark gespendet und damit das Leben gerettet hat. Jetzt steht er endlich vor ihr – fröhlich, mit blitzenden blauen Augen und wunderbar lebendig.
Rückblick ins Frühjahr 2011: Beim damals vierjährigen Benjamin wird Leukämie (Blutkrebs) diagnostiziert. Monatelang liegt er im Krankenhaus, muss mehrere Chemotherapien über sich ergehen lassen. Keine von ihnen bringt den ersehnten Erfolg. Schließlich kann nur noch eine Knochenmarkspende Benjamin retten. Seine Eltern sind verzweifelt. Sie selbst kommen als Spender nicht infrage, und auch bei einer großen Typisierungsaktion, die Benjamins Kindergarten zusammen mit der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) organisiert, wird kein passender Spender gefunden. Endlich, nach über einem halben Jahr voller Angst, erhält die Familie die erlösende Nachricht: Es gibt eine Frau, deren Knochenmark zu dem von Benjamin passt – Meike Gast. Die Krankenschwester hatte sich bereits 2009 als Spenderin registrieren zu lassen.
Der Bluttest verrät: Meikes Knochenmark passt
Meike erinnert sich noch genau an den Tag im Herbst 2011, als ihr die DKMS erstmals mitteilte, dass sie eventuell als Spenderin infrage käme. „Ich war glücklich, aufgeregt, verwirrt – alles zusammen", erzählt sie. Ein Bluttest bringt endgültig Gewissheit: Meikes Knochenmark passt zu dem eines todkranken Leukämiepatienten. „Als Spender erfährt man nicht, für wen das Knochenmark bestimmt ist", erklärt sie. „Doch als mir gesagt wurde, dass nur eine geringe Menge benötigt würde, war mir klar: Es geht um ein Kind. Spätestens da stand für mich fest, dass ich keinen Rückzieher machen würde."
Meike gehört zu den 20 Prozent aller Spender, bei denen die Stammzellen nicht aus dem Blutkreislauf, sondern unter Vollnarkose aus dem Beckenkamm entnommen werden müssen. „Natürlich hatte ich vor dem Eingriff ein bisschen Angst", sagt sie. „Umso stolzer war ich, als ich aus der Narkose erwachte und wusste, dass ich durch mein Handeln vielleicht geholfen hatte, ein Leben zu retten."
Die Narbe verheilt schnell, und auch der Muskelkater im Beckenbereich ist bald verschwunden. Was bleibt, sind die Gedanken an den kleinen, unbekannten Menschen, dem Meikes Knochenmark eingepflanzt wurde. Würde sein geschwächter Organismus die Spende annehmen? Oder würde sein Immunsystem das fremde Gewebe abstoßen? In dieser Zeit der Ungewissheit findet Meike häufig keinen Schlaf. Sie denkt an das Kind. Daran, wie schrecklich die Situation für dessen Eltern sein musste. Und daran, wie es wäre, wenn ihr eigener Sohn Finn so furchtbar krank wäre. „Das hat mir solche Angst gemacht, dass ich mitten in der Nacht aufgestanden und in sein Zimmer geschlichen bin", erinnert sie sich. „Da habe ich dann stundenlang gesessen und seinen Schlaf bewacht."
Die Leukämie des kleinen Benjamin ist besiegt
Endlich, nach einem Vierteljahr, kommt der erlösende Anruf der DKMS: Meikes Knochenmark arbeitet im Körper des Kindes, beginnt, neue, gesunde Blutzellen zu bilden. Die Leukämie ist besiegt. „Nach diesem Telefonat habe ich nur noch geheult. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr beruhigen!", erzählt Meike. "Ich glaube, ich war in meinem Leben erst ein einziges Mal so glücklich wie in diesem Moment. Und das war nach der Geburt von Finn."
Wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen? Kannst du schon wieder mit deinen Freunden spielen? Es sind Fragen wie diese, die Meike dem Kind, das durch die Knochenmarkspende zu ihrem genetischen Zwilling geworden ist, so gern stellen möchte. Doch laut der strengen Richtlinien der DKMS darf die Identität von Spender und Empfänger zwei Jahre lang nicht preisgegeben werden. Deshalb beschließt Meike, der Familie des Kindes über die DKMS einen anonymen Brief zu schreiben. Aber wie beginnen, wenn man nicht den Eindruck erwecken möchte, Dankbarkeit einzufordern? Erst nach einem Jahr bringt sie die richtigen Worte zu Papier – und erhält prompt Antwort. „Ich erfuhr, dass der Knochenmarkempfänger ein Junge war, Benjamin hieß und genauso alt war wie mein Finn", sagt Meike Gast. "Das war Euphorie pur! Es fühlte sich an, als hätte ich einen zweiten Sohn bekommen."
Grundsätzlich kann sich jeder gesunde Deutsche zwischen 18 und 55 Jahren bei der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) registrieren lassen. Dazu einfach unter www.dkms.de das Online-Registrierungsformular ausfüllen. Danach kommt das Registrierungsset mit Wattestäbchen per Post nach Hause. Mit dem Stäbchen einen Abstrich von der Wangenschleimhaut nehmen, Probe zur Untersuchung zurück ans Labor schicken. Danach werden die Ergebnisse in die weltweite Spenderdatei eingestellt.
Bis zum Ablauf der Zweijahresfrist schicken sich Meike und Benjamins Familie weiterhin anonyme Briefe über die DKMS. Dann, nach Aufhebung der Sperre, bekommt Meike eine Einladung nach Hamburg – Benjamin möchte seine Lebensretterin endlich kennenlernen. Auf der Fahrt war ich total aufgeregt", erzählt Meike. „Denn obwohl wir uns ja noch nie persönlich begegnet waren, hatte ich für Benjamin schon liebevolle, fast mütterliche Gefühle entwickelt."
Zwei besondere Menschen, die von nun an miteinander verbunden sind
Das gemeinsame Wochenende vergeht viel zu schnell. Benjamin und Finn freunden sich sofort an, toben zusammen durch Haus und Garten. Auch zwischen den Eltern herrscht sofort innige Vertrautheit. „Meike hat uns etwas gegeben, was uns niemand sonst auf der Welt hätte schenken können", sagt Benjamins Mutter. „Sie wird deshalb immer ein ganz besonderer Mensch für uns sein."
Ein ganz besonderer Mensch – das ist auch Benjamin endgültig für Meike geworden. Die beiden telefonieren häufig, besuchen einander in Begleitung ihrer Familien. Manchmal hat Meike trotzdem Sehnsucht nach dem kleinen Hamburger. Dann sieht sie das gerahmte Foto an, das Benjamin ihr bei ihrem ersten Kennenlernen geschenkt hat. Es hängt an einer Wand im Wohnzimmer. Gleich neben einem Bild von Finn.
*Namen von der Redaktion geändert