Die Pille des Vergessens: Das Trauma aus dem Kopf verbannen

Posttraumatische Belastungsstörung
Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung wird der Betroffene von wiederkehrenden Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis geplagt. Forscher haben nun ein Mittel entwickelt, das diese Erinnerungen gezielt auslöschen kann Foto: Fotolia

Unfälle, Trennungen, Katastrophen – traumatische Ereignisse brennen sich tief in unser Gedächtnis ein. Die Folge: die sogenannte posttraumatische Belastungsstörung. Forscher haben jetzt eine Droge entwickelt, die diese Erinnerungen für immer löschen kann. Was aber, wenn das Medikament den Falschen in die Hände fällt?

Es gab keine Vorwarnung. Weder für David noch für seine Gäste. Gerade hat seine Frau die ersten Steaks auf den Grill gelegt, als der 32-Jährige plötzlich zu schreien beginnt und mit einem Satz hinter die Gartenhecke springt. Statt der überraschten Gesichter seiner Partygäste sieht der US-Veteran nur noch die schmerzverzerrten Fratzen seiner ehemaligen Kameraden. Er hört Maschinengewehrsalven über seinen Kopf zischen. Schweißperlen rinnen seine Stirn herunter. Erst als die beruhigende Stimme seiner Frau durch sein surreales Kopfkino dringt, kommt er wieder zur Besinnung. Später werden die Psychologen feststellen, dass David durch den Bombenanschlag, den er als US-Soldat in Afghanistan miterlebt hat, unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet. Der Geruch des verbrannten Fleischs auf dem Grill hatte die Kaskade der dunklen Erinnerungen in Davids Kopf aktiviert. Vier Monate nach seinem Einsatz. Und es kann jederzeit wieder passieren, ohne dass er die geringste Kontrolle darüber hat. Seitdem stellt sich David fast jeden Tag dieselbe Frage: „Wie wäre es, wenn ich die Erinnerungen an diesen einen Moment meines Lebens löschen könnte?“ Was er nicht weiß: Auch ein Neuroforscher hat sich diese Frage gestellt – und ist vor Kurzem auf eine Antwort gestoßen, die nicht nur das Leben von Patienten mit PTBS für immer verändern könnte...

Geburt des Traumas: So entstehen Erinnerungen

Joseph LeDoux, Psychologe an der New York University, gilt unter Fachleuten als Master of Memories, als der Meister der Erinnerungen. Seit 25 Jahren erforscht der 54-Jährige, was darüber entscheidet, welche Erinnerungen wie in unserem Gehirn abgespeichert werden. Mittlerweile konnten er und seine Kollegen beweisen, dass die Speicherkarte unseres Lebens, unser Gedächtnis, grundsätzlich aus zwei Festplatten besteht – der emotionalen und der impliziten Festplatte. Letztere, auch das Faktengedächtnis genannt, ist der Bereich in unserem Kopf, in dem wir Telefonnummern, Namen, Vokabeln oder mathematische Formeln speichern. Die für LeDoux jedoch wesentlich interessantere Festplatte ist die der emotionalen Erinnerungen. Hier werden die Ereignisse unseres Lebens gespeichert, die mit starken Gefühlen verbunden sind. Eine besondere Rolle spielt dabei die Angst. So fand LeDoux bei seinen Experimenten Folgendes heraus: Je stärker die Furcht ist, die wir während eines Erlebnisses empfinden, desto intensiver sind auch die Erinnerungen daran. Oft braucht es dann als Trigger nur ein ähnliches Geräusch oder einen ähnlichen Geruch wie beim traumatischen Ereignis selbst und die abgespeicherten Informationen an das unangenehme Erlebnis werden reaktiviert. Für David war dieser Auslöser das Grillfleisch. LeDoux bezeichnet diesen Erinnerungsprozess als „quick and dirty“, zu Deutsch „schnell und schmutzig“, das bedeutet: Noch bevor ein Mensch sich der Erinnerungen überhaupt bewusst wird, werden sie hochgeladen, und der Betroffene erlebt sie ein weiteres Mal. Genau darunter leiden Millionen Trauma-Opfer.

Traumatische Erinnerungen löschen

Von seinen Forschungsergebnissen motiviert, untersuchte Joseph LeDoux daraufhin den Prozess, wie Erinnerungen abgespeichert werden. Tatsächlich sind dafür gerade einmal eine Handvoll Botenstoffe nötig, die als eine Art Erinnerungsüberträger fungieren. LeDoux fand zudem heraus: Blockiert man genau in dem Moment des Ereignisses mit einem Hemmstoff die Ausschüttung dieser Botenstoffe, kann sich die Erinnerung nicht im Gedächtnis festsetzen und geht verloren.

Es ist schließlich genau diese Entdeckung, die LeDoux' Mitarbeiter Karim Nader auf eine abenteuerliche Idee bringt: Könnte man den gleichen Prozess nicht auch nutzen, um bei Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung bereits abgespeicherte Erinnerungen gezielt zu löschen?

Panikattacken bei Trauma-Patienten verhindern

Karim Nader entscheidet sich für den gleichen Hemmstoff, der bei LeDoux' Experimenten verwendet wurde, einen sogenannten Betablocker. Als Probanden nutzt der Neurobiologe Ratten, deren emotionales Gedächtnis auf die gleiche Weise wie das des Menschen funktioniert. Zunächst konditioniert er die Tiere darauf, dass nach einem bestimmten Signalton ein kurzer, unangenehmer Stromschlag einsetzt. Wie erwartet zeigen die Ratten nach mehreren Durchläufen, sobald der Ton erklingt, typische Angstreaktionen. Das emotionale Gedächtnis arbeitet auf Hochtouren. Nach dieser Lernphase injiziert er den Ratten exakt in dem Moment den Betablocker, in dem der Signalton erklingt. Das Ergebnis ist bahnbrechend: „Ich konnte nicht glauben, was passierte. Sie zeigten keinerlei Angstreaktion mehr auf den Ton. Die negative Erinnerung daran war gelöscht“, erklärt Nader.

Das Experiment zeigte: Im Gegensatz zur jahrzehntelangen Annahme, nach der sich Erinnerungen nur ein einziges Mal festigen, wird eine Erinnerung tatsächlich jedes Mal neu abgespeichert, wenn sie durch einen Trigger hochgeladen wird. Und jedes Mal, wenn dies geschieht, werden für diese Übertragung die gleichen Botenstoffe als Erinnerungstransporter ausgeschüttet. Es ist genau dieser Moment, in dem die Erinnerung kurzzeitig instabil ist, und man die negativen Gefühle an das Ereignis mit dem Hemmstoff löschen kann. Das bedeutet: Gelingt es, in diesem Zeitfenster mit einer Injektion die Erinnerungsbotenstoffe zu blockieren, kann die Erinnerung nicht wieder gespeichert werden – und geht verloren, obwohl sie bereits einmal im Gedächtnis gespeichert war. Mittlerweile bezeichnen Wissenschaftler diese Entdeckung als Gezeitenwechsel der Gehirnforschung.

Eine Pille gegen das Trauma

Kurz nachdem die Ergebnisse von Nader veröffentlicht wurden, gelang es dem niederländischen Hirnforscher Merel Kindt von der Universität Amsterdam erstmals, die Wirkungsweise von Betablockern auf die Erinnerungen auch beim Menschen nachzuweisen. Gemeinsam mit seinem Team trainierte Kindt 60 gesunden Testpersonen mithilfe leichter Elektroschocks an, vor Spinnenfotos Angst zu haben. Wie zu erwarten, reagierten die Versuchspersonen nach kurzer Zeit schon auf den bloßen Anblick des betreffenden Bilds mit Furcht. Dann schluckten alle Studienteilnehmer eine Pille – ohne zu wissen, ob es sich dabei um 40 Milligramm des Betablockers Propranolol oder um ein Scheinpräparat handelte. Es stellte sich heraus, dass die Probanden ihre Furcht wesentlich besser überwanden und ihre negativen Erinnerungen nahezu ausgelöscht waren, wenn sie vor dem erneuten Betrachten der Bilder den Betablocker eingenommen hatten.

Die Forscher hoffen jetzt, das Medikament zukünftig bei der Behandlung von Trauma-Patienten einsetzen und die Erinnerung der Betroffenen an die schrecklichen Erlebnisse löschen zu können. Nicht alle Wissenschaftler reagieren jedoch so positiv auf die neuen Erkenntnisse der Gedächtnisforschung und den möglichen Einsatz von Pillen für das Vergessen. Im Gegenteil: Viele halten die gezielte Löschung von Erinnerungen für eines der gefährlichsten Instrumente der Wissenschaft – die direkten Nebenwirkungen der Medikamente noch nicht einmal berücksichtigt...

Argumente gegen die Pille des Vergessens

Haarausfall, Blutdruckanstieg, Depressionen, Halluzinationen – die Liste der möglichen Nebenwirkungen von Betablockern wie Propranolol ist lang. Viele Mediziner halten sie jedoch noch für das geringste Problem bei der gezielten Erinnerungsmanipulation mit Propranolol. „Erinnerungen zu löschen ist nicht das Gleiche, wie ein Muttermal oder einen Leberfleck zu entfernen“, erklärt der Neuropsychologe Daniel Sokol von der St George's University of London. „Vielmehr kann dieser Eingriff, selbst wenn er noch so gezielt ist, unsere gesamte Persönlichkeit verändern.“ Der Grund: Unsere Identität ist eng verknüpft mit unseren Erinnerungen. Überhaupt ist unser Gehirn das komplexeste Netzwerk des Universums. Jede Erinnerung ist mit einer anderen verknüpft. Woher weiß man also, dass man neben der Erinnerung an die schmerzhafte Trennung von seinem Partner mit der Vergessenspille nicht auch die Erinnerungen an die schönen Momente mit ihm oder ihr verliert. Was passiert mit den Erinnerungen an Freundschaft, fremde Kulturen und die respektvollen Begegnungen in Afghanistan, wenn der Moment des Bombenanschlags aus dem Kopf eines US-Soldaten gelöscht wird? Der Mediziner Paul Farmer warnt: „Beim Löschen von negativen Erinnerungen können auch positive Erinnerungen für immer verloren gehen.“

Ein weiteres Risiko bei der Verwendung der Vergessenspillen: Wenn jede Erinnerung gelöscht werden kann, wie denkt dann zum Beispiel ein Mörder über seine Schuld nach? Kann er noch Gefühle wie Reue und Mitleid empfinden? Dürfen Opfer, Täter und Zeugen die Pille dann erst nach der rechtskräftigen Verurteilung schlucken? Wiederaufnahme des Verfahrens ausgeschlossen? Die größte Gefahr jedoch sehen Wissenschaftler im ausbleibenden Lerneffekt. Denn wenn unser Gedächtnis wie eine Musik-Playlist funktioniert, bei der man nach Belieben einzelne Songs, also Fehler, weiterskippen oder löschen kann, wie sollen wir dann aus diesen Fehlern lernen? „Erinnerungen dienen als wichtigstes Alarmsignal in unserem Leben. Nur dank ihnen können wir Gefahren vorhersehen und rechtzeitig reagieren“, erklärt der Neurobiologe John Harris von der University of Manchester. Große Kopfschmerzen bereiten den Forschern zudem auch die Gedanken daran, was passiert, wenn eine solche Pille den falschen Menschen in die Hände fällt. „Mein größter Albtraum ist die Vorstellung, dass Diktatoren und Tyrannen diese Pillen als Manipulationswaffe einsetzen“, sagt Todd Sacktor von der Columbia University: „Noch müssen die Despoten dafür ganze Geschichtsbände umschreiben lassen, was aber, wenn sie bald Millionen Menschen eine Pille verschreiben lassen können, die deren Erinnerungen an die Wahrheit löschen kann.“