Bulimie: Wenn die Seele nicht bekommt, was sie braucht

Ein Gespräch mit der Therapeutin Maria Sanchez über die Heilung von emotionalem Essen zum Beispiel bei den Diagnosen Bulimie und Magersucht.
Zu ihr kommen Menschen, die etwas in ihrem Leben nie wieder machen wollen: eine Diät! Weil sie es im wahrsten Sinne des Wortes satthaben, ständig über Essen nachzudenken. Kalorien zu zählen. Sich auf die Waage zu stellen und Kilos zu notieren, mit einem Plus oder Minus davor. Sie wollen frei sein. Sich endlich wohlfühlen. Mit sich selbst und in ihrem Körper. Die Psychotherapeutin Maria Sanchez kennt die Kämpfe gegen die Pfunde aus eigener Erfahrung. Auf ihrem Weg zur Heilung hat sie ein psychologisch fundiertes Konzept entwickelt. Es heißt "Sehnsucht und Hunger. Heilung von emotionalem Essen".
Frau Sanchez, was ist eigentlich emotionales Essen?
Maria Sanchez: Einfach gesagt – wenn jemand mehr isst, als sein Körper braucht. Können Sie das genauer beschreiben? Sie kennen das bestimmt: Obwohl wir körperlich satt sind, essen wir. Die Schokolade am Abend vor dem Fernseher. Das Stück Kuchen bei der Arbeit. Das Pizzaessen mit Freunden beim Italiener. Wir verspüren zwar keinen körperlichen Hunger, aber wir greifen trotzdem zu. Weil es gerade so gemütlich ist. Weil wir es uns nach einem stressigen Tag "verdient" haben. Weil wir uns in netter Gesellschaft befinden. Klar. Das kenne ich. Das ist mein Nervenfutter zur Entspannung. Genau. Jeder von uns isst ab und zu emotional. Der Unterschied zu einer emotionalen Essstörung liegt darin, dass es bei natürlich schlanken Menschen erstens selten vorkommt und sie sich zweitens keine Gedanken darüber machen müssen, wie sie die aufgenommenen Kalorien wieder loswerden. Emotional essende Menschen hingegen kontrollieren sich ständig beim Essen. Sie sind immer angespannt. Und dabei spielt es auch keine Rolle, ob sie normal- oder übergewichtig sind.
Das heißt, es gibt auch schlanke Menschen, die ein Problem mit dem Essen haben?
Die gibt es. Das hat auch gar nichts zu tun mit den offziellen medizinisch-therapeutischen Diagnosen wie Bulimie, Magersucht, Adipositas oder Binge Eating ...
... einer Störung mit unkontrollierten Heißhunger-Attacken ...
... dennoch haben diese Menschen ein Essproblem, unter dem sie extrem leiden.
Wie sieht das denn ganz konkret aus?
Nehmen Sie zum Beispiel Übergewichtige, die keine ungewöhnlich großen Mengen in kürzester Zeit essen. Ihre Essstörung äußert sich darin, dass sie über den Tag verteilt kontinuierlich mehr zu sich nehmen, als ihr Körper braucht. Ich nenne sie die "Pegelesser". Dann gibt es Menschen, die kein Übergewicht haben, ihre Figur jedoch nur durch Verhaltenskontrolle wie Diät, Sport oder permanente Selbstdisziplinierung halten können. Da sie ohne das alles zunehmen würden, nenne ich sie die "dünnen Dicken". Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie essen, um ein tiefer liegendes Gefühl abzudämpfen oder "wegzumachen". Das ist "emotionales Essen".
Sie haben Sehnsucht und Hunger?
Ja, ihre Seele hat Hunger. Sie sehnt sich danach, gehört und erhört zu werden.
Dann geht es also um nicht wahrgenommene Gefühle?
Es geht vor allem darum, unseren Körper als Sitz der Gefühle miteinzubeziehen. Gefühle wollen gefühlt werden – und nicht gedacht. Was fühle ich? Was will mein Körper? Worauf hat er Hunger? Nur wenn es uns gelingt, diese körperliche Ebene hinein zu holen, kann der Drang nach Essen aufgelöst werden.
Wenn ich erkenne: Ich will jetzt etwas Süßes oder Herzhaftes essen, weil ich gerade gestresst, müde, wütend oder einsam bin, kriege ich damit mein Problem in den Griff?
Leider nein. Denn nur auf der kognitiven Ebene, also mit dem Verstand, erreichen wir nichts, was von Dauer ist. Deshalb führen ja auch Diäten und Ernährungsumstellungen meist zu einem Jo-Jo-Effekt. Das habe ich selbst zur Genüge mehr als 20 Jahre lang erfahren. In meinen Seminaren geht es weder um Kilos noch um Kalorien. Meine Teilnehmer haben die ausdrückliche Erlaubnis, alles zu essen, wonach ihnen zumute ist. Das Ziel ist nicht: Wie nehme ich so und so viel ab? Sondern: Wie erreiche ich mein Wohlfühlgewicht? Eine Teilnehmerin hat es einmal so ausgedrückt: "Ich möchte endlich wieder in meinen Körper passen. Und nicht nur in meine Kleider."
Und wie genau kann das gelingen?
Indem sie behutsam und Schritt für Schritt erfahren, wofür das Essen in ihrem Leben steht. Dafür habe ich verschiedene innere Körperübungen und Methoden entwickelt. Sie sensibilisieren die Betroffenen für innere Prozesse und helfen dabei, verborgene Blockaden und Gefühle zu entdecken und aufzulösen. Ich möchte einen Prozess in Gang setzen, den die Frauen und Männer im Alltag selbst weiterführen können. Hilfe zur Selbsthilfe.
Was passiert dann mit den Menschen, die zu Ihnen kommen?
Sie werden frei. Sie werden leichter. Und zwar physisch und psychisch.
Quelle: Bella, 13/2011