Autismus bei Frauen und Mädchen erkennen und verstehen

Autismus äußert sich bei Frauen anders als bei Männern. Darum wird die Störung bei ihnen auch häufig spät oder gar nicht erkannt. Schon im Kindesalter unterscheiden sich die Autismus-Merkmale bei den beiden Geschlechtern teils deutlich, vor allem in ihrer Ausprägung. Woran man Autismus bei Frauen und Mädchen erkennt.

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Wenn Autismus bei Frauen oder Mädchen diagnostiziert wird, ist das für die Betroffenen und ihre Familien häufig eine große Erleichterung – denn das Gefühl, anders zu sein, begleitet die Mädchen von Anfang an. Die Autismus-Diagnose folgt häufig aber deutlich später als bei männlichen Betroffenen.

Eine Frau arbeitet am Computer
Autistische Frauen sind oft Meisterinnen der Anpassung Foto: iStock/stockfour
Begriff Asperger: Eigentlich veraltet

Während Fachleute lange Zeit zwischen den zwei Bereichen „frühkindlicher Autismus“ (starke soziale und teils geistige Beeinträchtigung mit deutlichen Entwicklungsstörungen beispielsweise im sprachlichen Bereich) und „Aspergersyndrom“ (einer leichteren Ausprägung von Autismus mit deutlich weniger Beeinträchtigungen im Alltag) unterschieden, werden beide Begriffe inzwischen unter den Fachausdruck Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gefasst. Er verdeutlicht, dass es sich bei der Störung um eine große Bandbreite von verschieden starken Symptom-Ausprägungen handelt. Da der Begriff Asperger aber noch im allgemeinen Sprachgebrauch verankert ist, wird er hier im Text zur Abgrenzung von frühkindlichem Autismus ebenfalls verwendet.

Sonderfall "weiblicher Autismus": Warum wird Autismus bei Frauen häufig spät erkannt?

Der Grund für die häufig späte Autismus-Diagnose bei Frauen liegt zum einen darin, dass die Definitionskriterien der Störung bei ihrer Entdeckung vor allem an Jungen ausgerichtet wurden. So schloss Hans Asperger, Entdecker des Asperger-Syndroms, in seine Studien zum Thema nur männliche Probanden ein. Zudem ging man lange Zeit davon aus, dass die Störung ausschließlich oder hauptsächlich Jungen betrifft.

Zum anderen sind autistische Mädchen und Frauen häufig Meisterinnen der Anpassung – sie betreiben große Anstrengungen, um ihr Anderssein vor der Umwelt zu verbergen; etwa, indem sie nicht-autistische Geschlechtsgenossinnen imitieren (und das häufig mit großem schauspielerischem Talent) und sich Interessensgebiete oder Spezialinteressen suchen, die ihrem Alter und Geschlecht nach „passend“ sind.

Autismus-Symptome: Bei Frauen und Mädchen oft anders

Autistinnen sind außerdem meist „ausdrucksstärker“ als männliche Betroffene – so fällt es ihnen leichter, über ihre Gefühle zu sprechen und der körperliche Ausdruck von Emotionen (Umherrennen, Springen, mit den Händen wedeln) ist bei ihnen stärker ausgeprägt. Bei erwachsenen Autistinnen kommt es auch häufiger zu emotionalen Zusammenbrüchen (auch in der Öffentlichkeit), etwa durch sensorische Überlastung. Das kann sich mitunter in Wutanfällen und Tränenausbrüchen äußern.

Die Tatsache, dass ihr Verhalten nicht so „eindeutig autistisch“ ist wie das männlicher Betroffener, führt paradoxerweise häufiger zu negativen Reaktionen der Umwelt. Denn aufgrund ihrer höheren sozialen Kompetenz werden auch höhere soziale Erwartungen an sie gestellt, die sie aufgrund ihrer Autismusstörung aber häufig trotz großer Anstrengungen nicht erfüllen können.

Autistische Frauen haben oft ein größeres Interesse an Freundschaften und Beziehungen als männliche Autisten und können diese oft auffällig gut analytisch reflektieren. In der Regel haben sie auch weniger Probleme, im Alltag zurechtzukommen, als männliche Betroffene – all diese zusätzlichen Kompetenzen gestalten die Autismus-Diagnostik bei erwachsenen Frauen und auch bei betroffenen Mädchen häufig zunächst schwierig.

Autistische Mädchen und Frauen wirken auf ihre Umwelt häufig vor allem seltsam – in die historisch geschaffene Autismus-Schublade passen sie aber nicht wirklich, weil sie scheinbar sozial „zu gut funktionieren“.

Darum tun sich selbst Fachärzt:innen bei Frauen und Mädchen häufig schwerer mit der Diagnose ASS. In vielen Fällen wird bei ihnen zunächst eine falsche Diagnose gestellt, zum Beispiel Angststörungen, Zwangsstörungen oder soziale Phobien.

Asperger bei Frauen: Typische Merkmale

Die Diagnose erfolgt bei Autistinnen vor allem dann häufig erst im Erwachsenenalter, wenn sie von der leichteren Ausprägung des Autismus, früher Asperger genannt, betroffen sind. Typische Autismus-Symptome bei erwachsenen Frauen sind:

  • Junges, nicht typisch weibliches Aussehen: Autistische Frauen legen wegen ihrer sensorischen Sensitivität oft Wert auf bequeme, praktische Kleidung, die nicht kratzt oder drückt. Make-up oder aufwendigen Frisuren können sie wenig abgewinnen – darum wirken sie häufig jünger und „unweiblicher“ als ihre Altersgenossinnen. Viele Autistinnen fühlen sich auch nicht „richtig weiblich“ sondern eher halb männlich/halb weiblich oder geschlechtslos.   

  • Ehrlichkeit/Unverblümtheit: Galantes „Drumherumreden“ ist bei vielen Autistinnen Fehlanzeige – sie sagen meist geradeheraus, was sie zu einem Thema denken. Das kann mitunter dazu führen, dass sich andere vor den Kopf gestoßen fühlen. Mit Ironie und Doppeldeutigkeiten tun sich viele Autistinnen ebenfalls schwer. Häufig wirken sie in solchen Situationen trotz einer mitunter sehr hohen Intelligenz „begriffsstutzig“.  

  • Wenig Mimik: Autistische Frauen haben in der Regel weniger Mimik als Nicht-Autistinnen – häufig aber mehr als männliche Autisten.

  • Befremdliche Wirkung auf andere: Die Kombination aus Ehrlichkeit und wenig Mimik lässt Autistinnen häufig kaltherzig oder unfreundlich wirken auf Menschen, die sie nicht kennen. Teilweise führt ihre mitunter ungewöhnliche Art zu denken auch dazu, dass andere Menschen sie missverstehen oder mit ihren Äußerungen gar nichts anfangen können.

  • Monothematische Gespräche: Gespräche mit Autistinnen (und Autisten) sind häufig „monothematisch“; sie können stundenlang über ihr Lieblingsthema oder ihre Spezialinteressen monologisieren.

  • Besondere Begabungen und Vorlieben: Autistische Frauen haben oft ein ausgeprägtes Interesse an Naturwissenschaften, Computern und Technologie, sind aber auch häufig musisch oder künstlerisch begabt. Viele Autistinnen haben eine Vorliebe für Sprachen oder kreatives Schreiben; nicht wenige bringen sich das Lesen und Schreiben schon vor der Schule selbst bei. Viele Asperger-Frauen lieben Filme und Bücher und tauchen gerne in eine Fantasy- oder Science-Fiction-Welt ab. 

  • Kontroll- und Ruhebedürfnis: Das Verlassen der vertrauten Umgebung und das Zusammensein mit anderen, vor allem unbekannten Menschen ist für Autistinnen anstrengender als für Nicht-Autistinnen. Am wohlsten fühlen sie sich meist in der „kontrollierten“ Umgebung ihres eigenen Zuhauses. Besonders nach anstrengenden sozialen Aktivitäten brauchen sie viel Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten, um sich von der sensorischen Überlastung zu erholen. Das Kontrollgefühl in einer gewohnten Umgebung hilft Autistinnen, ihr Stresslevel zu senken – dieselbe Wirkung haben auch feste Gewohnheiten und Rituale, an denen Betroffene häufig rigide festhalten.

  • Überforderung in sozialen Situationen: In Situationen mit sozialer oder sensorischer Überlastung ziehen sich Autistinnen häufig zurück – soziale Situationen im kleineren Kreis können sie in der Regel aber besser bewerkstelligen als männliche Betroffene. Teilweise können sie soziale Kompetenz sogar gut „spielen“, bezahlen dafür aber nicht selten mit Erschöpfung oder Zusammenbrüchen nach der überstandenen Situation.

Asperger-Mädchen: Nicht bloß schüchtern

Autistische Mädchen, vor allem mit einer leichten Autismus-Ausprägung (vormals Asperger) sind in der Regel ruhiger und fallen weniger durch aggressives Verhalten oder lautstarke Wutausbrüche auf als Jungen mit ASS. Sie stecken von Anfang an viel Energie in die Anpassung an ihre Umgebung und trainieren das „Chamäleon-Dasein“ von klein auf.

Mädchen mit Asperger ziehen sich häufig in ihre eigene Welt zurück und wirken dann auf den ersten Blick schüchtern. Von Schüchternheit unterscheidet ihr Verhalten sich aber dadurch, dass schüchterne Menschen gerne an sozialen Interaktionen teilhaben möchten, sich aber nicht trauen – autistische Mädchen entfliehen der Situation, weil sie sie überlastet und überfordert und nicht, weil sie sich gehemmt fühlen.

Anders als schüchterne Kinder, die sich etwa hinter Bezugspersonen verstecken, aber durchaus zumindest kurzzeitig den Blickkontakt zu Fremden suchen, wirken autistische Mädchen häufig teilnahmslos und starren in neuen sozialen Situationen vor sich hin, ohne den anderen Personen Beachtung zu schenken.

Da das vermeintlich schüchterne Verhalten kleiner Mädchen aber in das weibliche Rollenbild passt, wird ihm häufig weniger Aufmerksamkeit geschenkt als dem Verhalten von mitunter aggressiven, sozial auffälligen Jungen mit ASS.

Das Anderssein von Asperger-Mädchen zeigt sich darum häufig erst im Jugendalter deutlich, wenn Gleichaltrige sich den Hobbys und Interessen typischer Teenager hingeben. Autistische Mädchen wirken dann häufig unbeholfen, verstehen die neuen Spielregeln unter den Heranwachsenden sowie das neue Rollenverhalten zwischen Mädchen und Jungen nicht und fallen durch unreifes, kindliches und als unpassend empfundenes Verhalten auf.

Auf der anderen Seite wird in diesem Alter häufig ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn sowie ihre Hilfsbereitschaft und Ehrlichkeit (bis zur Unverblümtheit) offensichtlich. Dieses „Paket“ an Anderssein führt häufig zu Mobbingerfahrungen im Teenageralter bei Mädchen mit ASS.

Autismus bei Mädchen: Typische Anzeichen

An diesen Besonderheiten lässt sich Asperger häufig schon bei kleinen Mädchen erkennen:

  • Starke Reaktion auf Reize: Mädchen mit ASS sind oft stark geruchs- und geräuschempfindlich und auch optische Reize können sie überfordern. Häufig sind sie außerdem fasziniert von haptischen Eindrücken.

  • Spielverhalten: Mädchen mit ASS beschäftigen sich zwar häufig mit den gleichen Spielsachen wie ihre Altersgenossinnen, zeigen aber oft ein etwas anderes Spielverhalten – anstatt Puppen und Figuren an- und auszuziehen und interagieren zu lassen, stellen sie sie beispielsweise immer wieder in einer Reihe auf.

  • Sozialverhalten/Bindungsverhalten: Die soziale Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen fällt schwer – häufig müssen Freundinnen immer auf das betroffene Mädchen zugehen und eine Spieleinladung aussprechen. Dann lassen sich viele autistische Mädchen gerne von ihren Spielkameradinnen anleiten. Auch erwachsene Bezugspersonen müssen damit rechnen, dass es deutlich länger dauert, mit Asperger-Mädchen eine Bindung aufzubauen, als mit nicht-autistischen Kindern – das gilt beispielsweise für Erzieher:innen oder Lehrer:innen. Betroffene Mädchen sind in der Regel deutlich weniger kontaktfreudig und brauchen eine lange Kennenlernzeit, um Vertrauen und eine Bindung zu dem neuen Menschen aufzubauen.

  • Autostimulation: Die Autostimulation ist eine Strategie zur Stressbekämpfung von autistischen Mädchen und Frauen. Bei Mädchen ist sie aber oft noch ausgeprägter, weil das Bewusstsein für die mitunter irritierende Wirkung auf andere noch fehlt. Beispiele sind wiederholende Handlungen wie das Gesicht reiben, mit den Fingern schnippen, schaukeln oder mit dem Fuß aufstampfen.

  • Körperliche Reaktionen auf Freude: Bei Freude und Aufregung zeigen autistische Mädchen häufig überdurchschnittlich starke körperliche Reaktionen wie Umherrennen, Springen oder mit den Armen wedeln.

  • Wutausbrüche: Heftiges Weinen und Tobsuchtsanfälle aufgrund von Überlastung können auch bei älteren Mädchen mit ASS vorkommen – auch oder gerade in der Öffentlichkeit, weil dort die sensorische Überlastung oft besonders hoch ist. Asperger-Mädchen wirken häufig allgemein emotional unreifer als ihre Altersgenossinnen.

  • Spezialinteressen: Auch autistische Mädchen haben mitunter Spezialinteressen, mit denen sie sich geradezu obsessiv beschäftigen. Diese sind aber häufig gesellschaftsfähiger als die von Jungen, also etwa ein bestimmter Film oder ein weiblich assoziiertes Thema wie Pferde.

  • Ängstlichkeit: Autistische Mädchen sind häufig insgesamt eher ängstlich. Besonders neue, unbekannte Situationen machen ihnen große Angst. Die Einschulung, eine Klassenfahrt: Ereignisse, auf die sich andere Mädchen freuen, können sie in Panik versetzen und ihnen große Sorgen und schlaflose Nächte bereiten. Am wohlsten fühlen sie sich in einer vertrauten Umgebung mit streng festgelegten Routinen und Gewohnheiten und wenig unvorhersehbaren Ereignissen.

Autistische Frauen und Mädchen unterstützen

Eine ASS-Diagnose kann nicht nur für die betroffenen Mädchen und Frauen eine Erleichterung sein, sondern auch für ihr Umfeld. Denn Freund:innen und Familie wissen nun, was mit ihrer Tochter, Schwester oder Freundin „nicht stimmt“ und können vielleicht entspannter damit umgehen.

Um die Betroffenen zu unterstützen, ist es vor allem wichtig, ihr Bedürfnis nach Rückzug zu respektieren und Verständnis zu zeigen, wenn sie sich sensorisch überlastet fühlen. Eltern von Mädchen mit Autismus sollten vor allem darauf achten, dass der Alltag des Kindes durch klare Regeln und Routinen gut strukturiert ist: Denn dieses Regelwerk gibt ihm Halt und reduziert Stress und Überforderungen im Alltag.

Hilfreich ist es außerdem, das Umfeld wie Verwandte, Freund:innen und Schule oder Kita über die Diagnose zu informieren, um das größtmögliche Verständnis für das Kind zu erreichen. Auch erwachsene Frauen mit ASS können davon profitieren, beispielsweise ihren Arbeitgeber über ihre Diagnose zu informieren. Vielleicht gibt es dann die Möglichkeit, stressauslösende Faktoren wie Großraumbüros, eine laute Geräuschkulisse oder Besprechungen in großen Gruppen im Arbeitsalltag zu umgehen.

Gut für Betroffene und ihre Angehörigen ist außerdem, dass zurzeit das Bewusstsein für Autismus bei Frauen und Mädchen wächst – und damit auch das Verständnis und die Anzahl passender Hilfsangebote.

Quellen:

Preißmann, Christine (Hrsg.), 2020: Überraschend anders – Mädchen & Frauen mit Asperger. Stuttgart: TRIAS Verlag.  

Rudy, Simone (2012): Aspergirls: Die Welt der Frauen und Mädchen mit Asperger. Weinheim, Basel: Beltz Verlag.