Anselm Grün: Was wir unsere Ängste fragen sollten

Anselm Grün ist Benediktiner und leitet die Abtei Münsterschwarzach in Bayern. Er ist einer der meistgelesenen Sachbuchautoren unserer Zeit. Millionen Menschen vertrauen auf seine Weisheiten

Immer mehr Menschen sind sensibel und leiden unter Ängsten. In seinem Buch zeigt Pater Anselm Grün, welche Kraft in unseren Gefühlen steckt und wie wir sie nutzen können – um glücklicher zu leben.

Gefühle bestimmen unser Denken, sie beeinflussen unsere Entscheidungen und das, was wir tun. Sie sind aber auch innere Kraftquelle und die Voraussetzung, um Zugang zu anderen zu finden. Pater Anselm Grün, Deutschlands bekanntester spiritueller Denker, gibt dazu faszinierende Impulse.

Angst – Freundin im Leben

Angst gehört zu den Gefühlen, die wir nicht im Griff haben, sondern die uns überwältigen können. Sie gehört zu den negativen Gefühlen, die wir gern loswerden wollen. Doch das gelingt uns nicht. Oft genug machen wir die Erfahrung: Je mehr wir gegen sie kämpfen, desto stärker werden sie ... Von solchen Ängsten möchten wir gerne frei werden. Die Frage ist, wie das geht. Der erste Schritt besteht darin, sich mit der Angst auszusöhnen und mit ihr zu sprechen. Indem ich mit der Angst spreche, mache ich mich mit ihr vertraut. Und es wird mir klarer, wovor ich wirklich Angst habe. Die diffuse Angst wird konkreter. Wenn ich meine Angst, mich vor anderen zu blamieren, anderen meine Schwächen zu offenbaren, einen Fehler zu machen, den alle merken, befrage, dann entdecke ich in der Angst meine Bedürfnisse. Vor allen gut dazustehen, perfekt und fehlerlos zu sein. Indem ich dieses Bedürfnis formuliere, merke ich, wie unrealistisch es ist. Die Angst lädt mich ein, mich von übertriebenen Bedürfnissen zu verabschieden, und weist mich auf falsche Grundannahmen hin wie „Ich darf keinen Fehler machen, sonst bin ich nichts wert, sonst werde ich abgelehnt“ ...

Fragen Sie Ihre Angst

Fragen Sie also die Angst: Was heißt es, das Leben nicht zu schaffen? Nicht die Kraft für den Alltag zu haben? Habe ich Angst, meine Existenz finanziell nicht sichern zu können? Wenn ich mit den Ängsten spreche, kann ich konkrete Schritte unternehmen, damit die Angst kleiner wird. Ich kann mir überlegen, was ich für die Existenzsicherung brauche, was ich dafür konkret tun kann. Und ich kann durch die Angst hindurch immer wieder das Vertrauen entdecken, das auch in mir ist ...

Die Angst kann zu einer Freundin werden, die uns einlädt, neue Maßstäbe für unser Leben zu finden.

Ärger – eine Einladung, etwas zu ändern

Eigentlich will uns der Ärger dazu einladen, uns zu befreien von dem, was uns da ärgert. Im Ärger steckt eine Kraft, die uns hilft, uns von negativen Worten oder Ereignissen zu distanzieren. Und manchmal ist der Ärger auch ein Impuls, etwas zu ändern. Wenn ich mich ärgere, dass in der Verwaltung immer wieder etwas schiefläuft, dann bewegt mich der Ärger dazu, ... das Problem zu besprechen. Dann hilft der Ärger, eine bessere Lösung zu finden. Hermann Hesse sagte einmal: „Was nicht in uns ist, das regt uns auch nicht auf.“ Oft zeigt der Ärger, dass der Mensch, der uns ärgert, etwas in uns anspricht, was wir bei uns selbst nicht annehmen können. Der Ärger erinnert uns an die eigenen Schattenseiten, um uns damit auszusöhnen ...

Ärger hat immer einen Sinn

Der Ärger ist die Kraft, mich von Menschen, die eine negative Ausstrahlung haben, zu distanzieren. Wenn mich ein Mensch ständig ärgert, kann ich mich auch fragen: Wie unzufrieden muss er sein, dass er ständig an mir herumkritisiert? ... Er darf so unzufrieden sein, aber ich lasse es bei ihm. Es ist sein Problem ...

Der Ärger hat immer einen Sinn. Es geht darum, diesen Sinn zu erkennen und dann sinnvoll den Ärger einzusetzen, um die Situation zu ändern, die uns geärgert hat.

Neid – Hinweis auf meine tiefsten Sehnsüchte

Neid erwächst daraus, dass wir uns ständig mit anderen vergleichen ...

Sobald wir in eine Gruppe von Menschen kommen, fragen wir uns: Wer sieht besser aus, wer ist intelligenter, wer kann besser reden, wer kann sich besser darstellen, wer hat mehr Erfolg? ...

Wir bleiben damit nicht bei uns, sondern sind immer schon bei den anderen. Wer sich mit anderen vergleicht, der kommt nicht zur Ruhe. Er findet bei anderen immer etwas, was er nicht hat ...

Unterdrückter Neid führt zum Selbsthass und zur Selbstverachtung. Wer sich vom Neid bestimmen lässt, den zerfrisst er ...

Neid zulassen

Gerne verdrängen wir Neid oder behandeln ihn wie ein verborgenes Gefühl. Wir sollten ihn aus der Dunkelheit herausholen und ihm offen begegnen. Was will der Neid mir sagen? Welche Lebensbereiche liegen bei mir brach? Wo will ich anders sein? Der Neid zeigt meine Bedürftigkeit und meine tiefsten Sehnsüchte ... Indem ich den Neid zulasse, nehme ich ihm die Macht über mich. Ich komme wieder in Berührung mit mir selbst. Und versuche, dankbar im Einklang mit mir zu leben. Dann entdecke ich, wie viel mir Gott in meinem Leben geschenkt hat. Wenn ich das sehe, kann ich auch gönnend gegenüber anderen sein.

Hoffnung – Bedingung für eine lebendige Gemeinschaft

Das deutsche Sprichwort sagt: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Das bedeutet aber auch: Ohne Hoffnung ist nur Tod und Erstarrung ...

Hoffnung ist immer etwas Personales. Ich gebe einen Menschen nicht auf. Ich hoffe auf das, was ich noch nicht sehe. Ich traue ihm zu, dass das Gute in ihm sich entfaltet. Aber die Hoffnung zielt auch auf mich selbst. Sie ist immer die Hoffnung, dass es besser wird, dass es für mich eine gute Zukunft gibt. Diese Hoffnung ist die Bedingung dafür, dass ich mich selbst nicht aufgebe, sondern kämpfe, auch wenn es mir gerade nicht gut geht ...

Sie ist immer „Hoffnung für“, und zwar nie nur für mich, sondern auch für die Menschen um mich herum. Sie ist also die Bedingung für eine lebendige Gemeinschaft ...

Freude – Ausdruck erfüllten Lebens

Offensichtlich liegt es doch an uns, bei allem Leid, das uns immer wieder trifft, uns für die Freude zu entscheiden. Doch Freude ist nicht einfach ein Gefühl, das ich auf Befehl in mir hervorrufen kann. Freude ist Ausdruck erfüllten Lebens. Ich kann also nicht die Freude an sich anstreben. Doch ich kann versuchen, mein Leben mit allen Sinnen zu leben. Je bewusster ich lebe, desto mehr werde ich die Freude in mir spüren ...

In jedem von uns liegt auf dem Grund seiner Seele Freude bereit. Aber oft sind wir von dieser Freude abgeschnitten. Wir können es üben, mit ihr in Berührung zu kommen. Sie weitet unser Herz ...

Über die kleinen Dinge freuen

Wir merken oft gar nicht, wie wir unsere Unlust zelebrieren, wie wir uns fixieren auf das Negative. Dabei gibt es die vielen kleinen Dinge, über die wir uns täglich freuen können: den erfrischenden Morgen, die aufgehende Sonne, die schöne Landschaft, in der ich wandere, den Menschen, der mir freundlich begegnet und mich anstrahlt. Es braucht offene Augen, um mich an meinem Leben freuen zu können. Gerade wenn wir offen sind für das, was uns begegnet, kommen wir mit der Freude in uns in Berührung ... Es braucht nicht viel, um sich freuen zu können. Es genügt, ganz im Augenblick zu sein.

Gelassenheit – in der Mitte ruhen

Das Gefühl der Gelassenheit stellt sich erst ein, wenn wir gelernt haben, gelassen zu sein. Gelassen fühle ich mich, wenn ich mich selbst losgelassen habe, wenn ich nicht an meinen Bedürfnissen und Wünschen hänge. Ich lasse meine Illusionen los, die Bilder, die ich von mir und vom anderen habe ...

Gelassenheit hat mit dem Vertrauen zu tun, dass die Dinge und die Menschen erst einmal gut sind, dass sie so sein dürfen, wie sie sind ...

Gelassen wird nur der, der in solch innerer Freiheit allem begegnet, was auf ihn zukommt. Wer diese Gelassenheit gelernt hat, der empfindet in sich das Gefühl von Gelassenheit. Ihn bringt nichts so leicht aus der Ruhe. Er begegnet allem mit diesem inneren Gefühl von heiterer Gelassenheit. In seiner Nähe fühlen sich auch andere wohl. Sie haben das Gefühl, dass sie sein dürfen, wie sie sind, dass man sie so lässt. In diesem Lassen kann sich dann Großes entfalten.

Buchtipp: Anselm Grün: „Kleine Schule der Emotionen“, Herder Verlag, 160 S., geb. Ausgabe, ISBN: 9783451307546, 14,99 Euro