Alice-im-Wunderland-Syndrom: Wenn die Welt plötzlich schrumpft

Die Arme und Beine wachsen ins Unermessliche, die Umgebung schrumpft auf Zwergengröße – so erleben Menschen ihre Umwelt, die unter dem Alice-im-Wunderland-Syndrom leiden. So wie die bekannte Kinderbuch-Figur Alice im Wunderland nehmen betroffene Kinder und Erwachsene ihre Umgebung verzerrt wahr. Warum Migräne als Ursache des Syndroms eine wichtige Rolle spielt und was hilft, um wieder Kontrolle über die eigene Wahrnehmung zurückzubekommen.

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Es klingt wie ein böser Trip, aber es gibt dieses Phänomen wirklich: das Alice-im-Wunderland-Syndrom. Betroffene nehmen ihre Umwelt verzerrt wahr und leiden unter Angst- und Panikzuständen. Welche Ursachen stecken dahinter?

Alice im Wunderland hält Flasche und Schlüssel in den Händen
Im Märchen "Alice im Wunderland" fällt die Hauptfigur in einen Hasenbau und steht vor vielen Türen. Im Raum befindet sich ein Schlüssel, mit dem sie eine Tür öffnen kann. Aufgrund ihrer Körpergröße passt Alice jedoch nicht hindurch – und bedient sich eines Trunks, der sie schrumpfen lässt Foto: iStock/Svetlana_Smirnova

Was ist das Alice-im-Wunderland-Syndrom?

Das Alice-im-Wunderland-Syndrom (AIWS) wird auch Todd-Syndrom genannt, nach den britischen Psychiater John Todd, der es 1955 zuerst beschrieben hat. „Es umfasst eine Reihe von Symptomen, die zu einer veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmung führen", erläutert der Neurologe Prof. Dr. med. Peter Berlit. Ihm zufolge ist das AIWS keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptomkomplex als Ausdruck einer neurologischen oder psychischen Grunderkrankung.

Sein Kollege Dr. Tim Jürgens, Chefarzt der Klinik für Neurologie am KMG Klinikum Güstrow, ergänzt: „Es handelt sich um eine faszinierende, aber auch sehr komplexe Störung aus dem neurologisch-psychiatrischen Grenzbereich, die meist Kinder und junge Erwachsene betrifft.” Typischerweise komme es dabei zu Störungen der Körperwahrnehmung, die als beunruhigend und verstörend erlebt werden.

Das Phänomen ist zurückzuführen auf die Figur Alice im Wunderland aus dem gleichnamigen Kinderroman von Lewis Carrol aus dem Jahr 1865. Darin erlebt die Hauptfigur Alice, dass ihr Körper zu groß beziehungsweise zu klein ist oder seine Form verändert hat. Als klinisches Syndrom wurde es erstmals in den 50er-Jahren bei Migränepatient:innen beschrieben.

Migräne ist häufige Ursache des Alice-im-Wunderland-Syndroms

Beim Alice-im-Wunderland-Syndrom gehen Mediziner:innen von einer Funktionsstörung im Temporallappen (Schläfenlappen, lat. lobus temporalis) aus. Dort sind Prof. Dr. med. Berlit zufolge im Gehirn verschiedene Sinneswahrnehmungen und Gedächtnisleistungen verortet. „Es gibt eine lange Liste an Krankheiten, die das AIWS auslösen können oder damit vergesellschaftet sind, viele davon sind neurologische Krankheitsbilder.”

„Eine häufige gutartige Ursache ist die Migräne, so Dr. Jürgens. „In einer Umfrage unter den Patienten unserer Kopfschmerzambulanz konnten wir nachweisen, dass typische Symptome des Alice-im-Wunderland-Syndroms wie eine veränderte Wahrnehmung der Körpergröße und des Körpergewichts deutlich häufiger bei Patienten mit einer Migräne als in der Kontrollgruppe gefunden werden konnten.”

Weitere Ursachen des Alice-im-Wunderland-Syndroms

Aber es gibt auch andere Ursachen, die im Zusammenhang mit dem Alice-im-Wunderland-Syndrom stehen. Neben ernsten Erkrankungen wie einer Gehirnentzündung durch Zoster- oder Epstein-Barr-Viren, Schlaganfällen oder Hirntumoren kann das AIWS laut Prof. Berlit auch Symptom einer Epilepsie sein bzw. bei epileptischen Anfällen auftreten. Kinder und junge Erwachsene leiden vor allem an der sogenannten Temporallappenepilepsie, bei der die Anfälle vom Temporallappen aus gehen.

Auch bei psychiatrischen Krankheiten wie Schizophrenie oder depressiven Verstimmungen können die Wahrnehmungsstörungen auftreten. „Teils tritt ein Alice-im-Wunderland-Syndrom bei Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen auf, wobei hier dann die Abgrenzung zwischen realem und irrealem/unwirklichem Erleben schwierig wird”, sagt er. Der Schädigungsort sei häufig der hintere Teil des Scheitellappens sowie Teile der Sehrinde.

Schließlich kommen auch Medikamente oder Drogen – insbesondere psychoaktive Substanzen, sogenannte „Partydrogen“ – sowie Augenerkrankungen als Auslöser infrage.

Welche Symptome treten beim Alice-im-Wunderland-Syndrom auf?

„Alice im Wunderland“ erleben sie teilweise eine Orientierungslosigkeit in Raum und Zeit. „Die Umgebung und der eigene Körper werden verändert wahrgenommen. Dinge erscheinen plötzlich viel größer oder kleiner als in der Realität, der Tastsinn und das Hören können verändert sein. Auch eine Dislokation oder Fehlanordnung von Körperteilen wie in Gemälden von Pablo Picasso oder di Chirico werden beschrieben”, sagt Prof. Dr. med. Peter Berlit.

Alles erschiene im wahrsten Sinne des Wortes „verrückt“. Dies kann auch zu großer Verunsicherung und Angstzuständen führen – gelegentlich auch zu Panikattacken. Typischerweise treten die Wahrnehmungsstörungen beim Alice-im-Wunderland-Syndrom vor allem beim Einschlafen auf.

Diese psychischen und körperlichen Symptome sind typisch für das Alice-im-Wunderland-Syndrom:

  • vorübergehend gestörtes Körperschema: Körperteile werden als größer oder kleiner, teils auch als leichter oder schwerer wahrgenommen

  • Halluzinationen

  • veränderte Wahrnehmung von Personen

  • Verlust der räumlichen Orientierung

  • veränderte Zeitwahrnehmung (schneller oder langsamer)

  • veränderter Hör- und Tastsinn

  • Derealisation: Wahrnehmungsstörung, bei der die äußere Welt unwirklich erscheint

  • Metamorphopsie: Sehveränderungen hinsichtlich der Größe oder Entfernung von gesehenen Objekten 

  • Angst- und Panikzustände

  • Verwirrtheit

  • extreme Müdigkeit

  • Übelkeit bis hin zu Erbrechen

  • Kopfschmerzen

  • Schwindelzustände

  • blasse Haut

Wenn Kinder sich plötzlich anders verhalten und sich ängstlich zurückziehen, können das Hinweis auf das Alice-im-Wunderland-Syndrom sein. Allerdings kann dieses Verhalten auch ein Ausdruck anderweitiger psychischer Belastungen sein.

Alice-im-Wunderland-Syndrom: Wann zum Arzt?

Anders als bei einer Depression oder Panikstörung gibt es beim Alice-im-Wunderland-Syndrom keinen Test, mithilfe dessen Hilfe Betroffene ihre Beschwerden als erste Selbsteinschätzung einordnen können. Wichtig ist es, die Wahrnehmungsstörungen ärztlich abklären zu lassen. Sollte es mehrfach zu Fehlwahrnehmungen kommen, die ohne Ursache aufzutreten scheinen, sollte ein Arzt oder eine Ärztin aufgesucht werden.

Wie wird das Alice-im-Wunderland-Syndrom behandelt?

Entscheidend ist es, die Grunderkrankung zu erkennen und gezielt zu behandeln. In aller Regel führt die erfolgreiche Therapie der Grunderkrankung auch zu einem Verschwinden des AIWS. „Treten die Beschwerden des Alice-im-Wunderland-Syndroms bei einer Aura vor Migräneanfällen auf, ist eine medikamentöse Migräneprophylaxe von großer Bedeutung”, erklärt Prof. Dr. med. Peter Berlit.

„Wenn das AIWS Symptom einer Epilepsie ist, verschwindet es unter einer guten medikamentösen Einstellung mit Antikonvulsiva.” Wichtig ist es also, die Ursache zu behandeln – und nicht das Syndrom.

Die fehlgeleitete Wahrnehmung dauert in der Regel nicht lange an. Die Störung ist meistens nach einigen Minuten, maximal wenigen Stunden vorbei. In der Akutphase kann bei sehr schwerer Ausprägung eine vorübergehende Sedierung des Patienten bzw. der Patientin sinnvoll sein – zum Schutz desjenigen, der unter dem Alice-im-Wunderland-Syndrom leidet.

Quellen
  • Tim P. Jürgens, Laura H. Schulte and Arne May; Migraine trait symptoms in migraine with and without aura, Neurology published online March 21, 2014
  • J Neurol Neurosurg Psychiatry, Artikel / Shot report "Alice in Wonderland syndrome" associated with topiramate for migraine prevention (2011)
  • Neurology: Clinical Practice (2016), Artikel "Alice in Wonderland syndrome - A systematic review, Jan Dirk Blom, MD, PhD
  • BioMed Reseach International (2016), Artikel "Alice in Wonderland syndrome: A Clinical and Pathophysiological Review"