ADHS und Borderline: Wie hängen die beiden Erkrankungen zusammen?

Selbst erfahrene Fachärzt:innen können Schwierigkeiten damit haben, ADHS und Borderline klar voneinander zu unterscheiden. Borderline ist sogar die häufigste Fehldiagnose bei ADHS. Das liegt daran, dass es viele Überschneidungen zwischen den Erkrankungen gibt – aber genau so viele Unterschiede. Wie Borderline und ADHS zusammenhängen.

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ADHS wird in erster Linie mit Hyperaktivität in Verbindung gebracht, Borderline hingegen mit einem unberechenbaren, selbstzerstörerischen Verhalten. Auf den ersten (ungeschulten) Blick haben ADHS und Borderline überhaupt nichts miteinander zu tun. Doch die Symptombilder überschneiden sich an einigen Stellen – so sehr, dass es mitunter schwierig sein kann, eine stark ausgeprägte ADHS von der Borderline-Störung zu unterscheiden.

Eine Frau sitzt mit schlechter Laune auf dem Sofa
Borderline und ADHS weisen ähnliche Symptome auf – darum ist es nicht immer einfach, die beiden Störungen voneinander zu unterscheiden Foto: iStock/elenaleonova

ADHS und Borderline treten häufig gleichzeitig auf

Sowohl die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) treten in der Regel zusammen mit mindestens einer weiteren psychischen Störung auf. Häufig vorkommende Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) sind depressive Verstimmungen, Angst- und Panikstörungen, Suchterkrankungen und Substanzmissbrauch.

Doch ADHS und Borderline teilen nicht nur die gleichen Komorbiditäten. Sie können auch gleichzeitig auftreten. Man schätzt, dass etwa fünfzehn Prozent der mit ADHS diagnostizierten Menschen die Kriterien der Borderline-Störung erfüllen – und umgekehrt. Manchmal ist sogar von einer Komorbiditätsrate von bis zu 65 Prozent die Rede. Zudem ist Borderline die häufigste Fehldiagnose bei ADHS. Überraschend ist das nicht: Neurologische Untersuchungen haben nachgewiesen, dass bei ADHS und Borderline ähnliche Veränderungen der Gehirnstruktur vorliegen. Das kann eine Erklärung dafür sein, dass es bei den Symptomen einige Überschneidungen gibt.

Borderline und ADHS: Symptome überschneiden sich

Wenn es um die Gemeinsamkeiten zwischen Borderline und ADHS geht, ist die Amygdala von großer Bedeutung. Das Gefühlszentrum des Gehirns ist bei den Betroffenen überaktiv, was eine emotionale Instabilität zur Folge hat. Diese ist das Leitsymptom der Borderline-Störung, aber sie tritt auch bei ADHS auf. Unter einer emotionalen Instabilität versteht man ein unstetes Gefühlsleben, das sich durch starke und schnelle Stimmungsschwankungen äußert.

Damit geht eine hohe Impulsivität einher: Betroffene nehmen ihre Gefühle wesentlich stärker wahr und agieren diese aus. Typisch für Menschen mit ADHS und Borderline ist eine schnelle Kränkbarkeit und Reizbarkeit, die zu häufigen Wutausbrüchen führen kann. Impulsives Verhalten äußert sich aber auch durch riskantes Verhalten, weil Betroffene dazu neigen, spontanen Impulsen zu folgen, ohne über mögliche Gefahren nachzudenken.

Auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen spiegelt sich die emotionale Instabilität wider. Freundschaften und Partnerschaften sind selten von langer Dauer, da die Probleme, die aus den beiden Erkrankungen resultieren, die Beziehungen schwierig machen. Je enger die Beziehung ist, desto mehr Verlustangst und Eifersucht verspüren Betroffene. In der Folge suchen sie unaufhörlich nach Anzeichen dafür, dass sie abgelehnt oder missachtet werden.

Neutrale Äußerungen werden schnell negativ ausgelegt. Dann kommt entweder das „hitzige Gemüt“ der Betroffenen zum Vorschein, was die Beziehung extrem konfliktreich macht. Oder sie ziehen sich gekränkt zurück und beenden die Beziehung ohne Vorwarnung, aus einer spontanen Laune heraus. Die Trennung wird jedoch häufig nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen. Das Resultat ist eine kräftezehrende On-Off-Beziehung. Solche Nähe-Distanz-Probleme kommen bei ADHS häufig vor, ebenso wie bei Borderline.

Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen Borderline und ADHS ist ein geringes Selbstwertgefühl. Allerdings zeigen sich hier die ersten Unterschiede zwischen den Erkrankungen, da die Ursachen für die Selbstwertprobleme nicht die gleichen sind: Häufige Misserfolgserlebnisse, soziale Probleme und Unverständnis vom Umfeld machen es Menschen mit nicht-diagnostiziertem ADHS schwer, sich in einem positiven Licht zu sehen. Demgegenüber lässt sich der geringe Selbstwert bei der Borderline-Störung nicht an bestimmten Ursachen festmachen. Das negativ gefärbte Selbstbild wurzelt tief und geht nicht selten mit Gefühlen wie Ekel und Selbsthass einher.

Gut zu wissen

Im Internationalen Klassifikationssystem der Krankheiten (ICD) wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung in einen impulsiven Typus und einen Borderline-Typus unterteilt. Beim impulsiven Typus steht die mangelnde Kontrolle der Emotionen und Impulse im Vordergrund. Der Borderline-Typus hat zusätzlich dazu stärker mit Störungen des Selbstbildes zu kämpfen und neigt zu selbstzerstörerischem Verhalten.

Auch bei ADHS wird zwischen verschiedenen Typen differenziert – den hyperaktiven, unaufmerksamen und gemischten Typ. Beim unaufmerksamen Typ fehlt das Symptom der Hyperaktivität. In diesem Fall spricht man von ADS, der Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Wenn das hyperaktive Verhalten das Symptombild bestimmt, handelt es sich um den hyperaktiven Typ. Der gemischte Typ beschreibt hingegen eine Verbindung aus einem Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität.

ADHS oder Borderline – was ist der Unterschied?

Bei ADHS gibt es drei Leitsymptome: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität durch emotionale Instabilität. Lediglich auf den letzten Punkt, die Instabilität, gründen die Ähnlichkeiten zur Borderline-Störung. Auch wenn sie in Einzelfällen auftreten können, sind die Aufmerksamkeitsstörung und die Hyperaktivität keine typischen BPS-Merkmale. Umgekehrt umfasst auch die Borderline-Störung Symptome, die bei ADHS nicht vorkommen. Generell ist Borderline viel tiefgreifender, da es sich um eine Persönlichkeitsstörung handelt – im Gegensatz zu ADHS, die eine neurologisch bedingte Verhaltensstörung ist.

ADHS wirkt sich auf die Aufmerksamkeitsfähigkeit, das Gefühlsleben und das Verhalten der Betroffenen aus. Doch bei Borderline sind alle Bereiche des Ichs gestört: Neben dem Fühlen und Verhalten sind auch das Denken, die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Identität betroffen. Wer unter ADHS leidet, reagiert häufig auf spontane Impulse und kann daher von seinem Umfeld wechselhaft wahrgenommen werden. Betroffene haben jedoch ein starkes Identitätsgefühl und häufig eine starke Meinung. Menschen mit Borderline können das nicht von sich behaupten. Nicht nur ihre Gefühle und Stimmungen sind instabil, sondern auch ihre Identität, Einstellung, Werte sowie ihre sexuelle Orientierung. Borderliner wissen nicht, wer sie sind, was sie ausmacht und was sie wollen. Dabei pendeln sie stets zwischen den Extremen, weil ihre Denkweise stark polarisiert ist.

Borderline geht mit stärkerer emotionaler Instabilität einher

Hinzu kommt, dass bei Borderline die emotionale Instabilität wesentlich stärker ausgeprägt ist. Die Gefühle, die Borderliner erleben, halten länger an und hallen länger nach. Menschen mit ADHS kann es durchaus passieren, dass sie gar nicht mehr wissen, warum sie sich am Tag zuvor aufgeregt haben. Bei Borderlinern baut sich durch die starken Gefühle eine extreme innere Anspannung auf, die sie häufig durch Selbstverletzungen aufzulösen versuchen. Selbstverletzendes Verhalten kann sogar in suizidalen Handlungen übergehen. Wenn die Frage im Raum steht, ob bei einer Person ADHS oder Borderline vorliegt, sind selbstverletzende Handlungen ein wichtiges Distinktionsmerkmal – denn bei ADHS kommt dies seltener vor.

Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Erkrankungen liegt in den Ursachen der gesteigerten Risikobereitschaft: Borderliner gehen Risiken ein, um sich selbst in dissoziativen Zuständen, in denen sie sich wie betäubt fühlen, wieder spüren zu können. Menschen mit ADHS sind risikobereit, weil sie nicht genug über die Konsequenzen nachdenken. Zudem suchen sie stets nach einem Dopaminkick. Dem ADHS-Gehirn mangelt es nämlich an dem Glückshormon. Waghalsige Abenteuer stimulieren das Belohnungszentrum des Gehirns, weil sie für ein Hochgefühl sorgen.  

Nicht zuletzt unterscheiden sich auch die Entstehungsursachen der Erkrankungen. So sind bei der Borderline-Störung frühkindliche Traumata wichtige Auslöser, während ADHS auf genetisch bedingte Funktionsstörungen des Gehirns zurückgeht. Zwar können negative Kindheitserfahrungen und ADHS-Erziehungsfehler die Symptomatik verstärken, aber ursächlich sind sie für die Erkrankung nicht.

Borderline oder ADHS? Ein Kurzüberblick

Gemeinsamkeiten zwischen ADHS und Borderline:

  • Starke Stimmungsschwankungen

  • Impulsivität

  • Plötzliche Wutausbrüche

  • Hohe Konfliktbereitschaft

  • Unsicherheit in Beziehungen

  • Risikobereitschaft

  • Geringes Selbstwertgefühl

Unterschiede zwischen ADHS Borderline:

  • Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, ADHS eine Verhaltensstörung

  • Bei der Entstehung von Borderline spielen frühkindliche Traumata eine große Rolle

  • Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen treten nur bei ADHS auf

  • Emotionale Instabilität ist bei Borderline viel stärker ausgeprägt

  • Für Borderline ist selbstverletzendes Verhalten und ein schwaches Identitätsgefühl typisch

  • Riskantes Verhalten gründet jeweils auf unterschiedlichen Ursachen (mangelndes vorausschauendes Verhalten vs. emotionale Leere)

ADHS und Borderline: Psychologen stellen Diagnose

Ein ADHS-Test bzw. ein Borderline-Test können erste Hinweise darauf liefern, ob man unter einer der beiden Erkrankungen leidet. Eine zuverlässige Diagnose kann jedoch nur ein:e Psycholog:in oder ein:e Psychiater:in stellen. Das Diagnoseverfahren besteht aus einer ausführlichen Anamnese mit den Betroffenen selbst wie auch mit ihren Angehörigen oder Partner:innen sowie standardisierten Fragebögen, mit denen sich die klinischen Diagnosekriterien erfassen lassen. Bei ADHS und Borderline hat sich gleichermaßen eine Psychotherapie in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung als wirksam erwiesen, die Symptome zu reduzieren.

Quellen:

Diagnostik und Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung, in: uke.de

Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS), in: rki.de

Tajima-Pozo, Kazuhiro [u.a.] (2015): Correlation between amygdala volume and impulsivity in adults with attention-deficit hyperactivity disorder, in: nih.gov